Ein Weihnachtsmärchen aus dem Königreich Sachsen

[bsa_pro_ad_space id=4]

von numiscontrol

18. Dezember 2014 – Im Dezember 1906 war der Winter ziemlich spät, aber dafür gleich mit viel Schnee und Frost über die Teichlandschaft von Moritzburg gekommen. Die zehnjährige Lina stapfte mit einem großen Bündel Tannenzweige auf dem Rücken durch den hohen Schnee am Waldesrand und noch immer wirbelten dicke Schneeflocken vom Himmel. Von weitem sah sie wie durch einen Nebelschleier die Kirchturmspitze, und auch das Pfarrhaus kam immer näher, nun war es nicht mehr weit.

Im Pfarrhaus konnte sie sich endlich aufwärmen. Hm, wie das hier roch, blitzschnell hatten die frischen Tannenzweige, das gesamte Haus mit ihrem Duft eingenommen. Durch die kleinen Fenster im Haus konnte Lina hinüber zum Schloss blicken. Ein beladener Pferdeschlitten fuhr gerade die lange Auffahrt hinauf. Zwei Männer liefen nebenher und mussten kräftig schieben.
Bestimmt fahre ich bald mit dem Vater auch dort hinauf, wenn wir die vielen Tannenzweige für den weihnachtlichen Schmuck bringen dürfen. Hoffentlich bekommt der Vater den Auftrag vom Oberförster, eventuell darf er sogar wieder den königlichen Tannenbaum im Walde aussuchen und dann zum Schloss bringen. Oh ja, das wäre eine Freude.

Schloss Moritzburg im Winter. Foto: Angela Graff.

Lina liebte das Schloss Moritzburg. Sie freute sich jedesmal, wenn sie den Vater begleiten durfte und die Posten in den schönen Uniformen den Weg freigaben. Ihr größter Wunsch war es, einmal den sächsischen König aus der Nähe zu sehen und nicht nur aus einer Kutsche winkend.

Mit einem „Na, dort drüben steht wohl gerade der König am Fenster?“ wurde Lina plötzlich aus ihren Gedanken gerissen. Der Pfarrer war in die Stube getreten und lachte sie an.
„Aber Onkel Karl, wie kannst Du mich nur so erschrecken?“
„Lina, sagte der Pfarrer, auch wenn ich dein Onkel Karl bin, darfst du mich nicht im Pfarrhaus oder gar in der Kirche so nennen. Dort musst Du mich immer wie die anderen mit ,Sie‘ oder mit ,Herr Pfarrer‘ ansprechen, hörst Du? Warum vergisst Du das denn immer?“
„Aber das verstehe ich nicht, du bist doch…“
„Hast Du mich verstanden Lina?“, wurde sie unterbrochen.
„Ja!“
Er stellte eine Tasse mit heißen Tee auf den Tisch und sagte: „Komm trink, bevor du wieder in die Kälte gehst. Es wird bald dunkel. Und richte dem Vater meinen Dank und beste Grüße aus.“
Als Lina ausgetrunken hatte machte sie sich wieder auf den Weg durch den Schnee. Nur noch vereinzelt fielen jetzt die Flocken vom Himmel und plötzlich vernahm sie ein ihr wohlbekanntes Geräusch von kleinen Glöckchen. So wie es sich anhörte, kam der Vater ihr mit dem Pferdeschlitten entgegen. Nun saßen beide in Decken gehüllt nebeneinander auf dem Kutschbock, und aus einer Tabakspfeife tanzten kleine weiße Wölkchen um die Nase des Vaters herum.
„Papa, bringst du in diesem Jahr wieder den Tannenbaum zum Schloss und darf ich da mit?“, fragte Lina.
„Noch hat man mir nichts gesagt, aber ich denke schon. Auf alle Fälle haben wir schon einen schönen Baum ausgesucht“, antwortete der Vater. „Hast Du der Mutter noch etwas Tanne von uns auf das Grab gelegt?“
„Ja, habe ich.“, sagte Lina leise. Der Vater blickte dem Mädchen in das Gesicht und sagte: „Nun lass mal, die Mutter ist ja immer bei uns. Ich habe ihren Ring am Finger, und du trägst ihre Kette am Hals. Du hast die Kette doch noch, oder?“ Schnell nahm Lina die Kette in die Hand und betrachtete das goldene Medaillon.

In der Nacht träumte sie von einem Tannenbaum, der nicht durch die Schlosstüre passte. Daher wollte man schon im ganzen Lande das Weihnachtsfest absagen, doch ein Gardesoldat hatte über Nacht alle Äste abgesägt und dann im Schloss wieder angebracht. Dabei benutzte er einen großen Bohrer, der von vier Leuten gehalten werden musste. Der Gardist stand ganz oben auf der Leiter, und die wackelte bedrohlich. Die Leute ließen den großen Bohrer fallen, um die schwankende Leiter zu stützen. Mit einem lauten Knall fiel der Bohrer auf den Schlossboden. Lina wachte durch diesen Knall auf. Doch war kein Bohrer auf die Erde gefallen, sondern der Wind draußen hatte einen Fensterladen zugeschlagen. Schnell war Lina am Fenster und riegelte den Laden wieder ein. Dabei sah sie über den großen Teich zum Schloss hinüber, wo in zwei Fenstern noch Licht brannte. Ob da der König wohnt, fragte sie sich, als sie wieder im Bett lag.

Am nächsten Morgen war der Vater bereits mit dem Pferdeschlitten in den Wald gefahren und würde bestimmt erst am Abend zurückkommen. Lina verrichtete wie immer alle Arbeiten im Haus und ging dann zur Schule. Als sie allerdings am Mittag zurückkam, wieherten die beiden Pferde bereits im Stall. Neugierig betrat Lina das Haus. Vater hatte den Mittagstisch gedeckt und wartete schon. „Nun komm, beeile Dich. Wir fahren heute Abend noch auf das Schloss, und da sollst Du mit dabei sein.“ Lina fiel ihrem Vater um den Hals, so sehr freute sie sich. „Der Oberförster hat es erlaubt, aber nur wenn Du versprichst, dass Du immer an unserer Seite bleibst. Übrigens der Pfarrer, also Onkel Karl kommt auch mit, und da möchte ich, dass du dann auf dem Schloss nicht immer…“
„…Onkel Karl, sondern Herr Pfarrer sage?“, unterbrach ihn Lina.
„Ja genau, das meine ich.“
„ Aber Papa warum, das verstehe ich nicht?“
„Das ist auch schwer zu erklären. Aber nun iss, dein Essen wird noch ganz kalt.“ Lina dachte nicht weiter darüber nach, denn sie freute sich auf das Schloss. Schon heute Abend würde sie durch die langen Gänge zum prächtigen Ballsaal schreiten.

Schloss Moritzburg im Winter. Foto: Angela Graff.

Am Abend zog Lina den grünen Jägermantel an, welchen die Mutter ihr einst liebevoll genäht hatte, dazu setzte sie sich den passenden Hut mit einer langen Feder auf. Auf dem Weg zum Schloss wurde der Schlitten von vier königlichen Reitern mit Fackel begleitet. Man hatte sie extra zum Geleit geschickt. Die wenigen Leute auf der Straße drehten sich neugierig um, als der Schlitten mit dem Vater, Lina, dem Oberförster, dem Pfarrer Onkel Karl, sowie einer großen Weihnachtstanne vorbeifuhr. Die zwei Garde-Reiter vor und hinter dem Gefährt sorgten mit ihren Fackeln für Aufsehen. Am Eingang salutierten die Wachen und ließen den Schlitten ohne eine Kontrolle passieren.
Vor dem Abladen am Schlosshof nahm der Vater Lina beiseite und sie musste ihm nochmals versprechen, sich auf gar keinen Fall etwa davonzuschleichen. Wo sollte Lina auch hin, sie kannte sich doch hier nicht aus und außerdem war sie viel zu aufgeregt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Kurz darauf war die riesige Tanne abgeladen und das Schlosstor öffnete sich. Nun ging es über viele Treppen und lange Gänge. Zehn Leute trugen den Tannenbaum bis zum großen Ballsaal und dort musste erst einmal Rast gemacht werden. Allen, die zugepackt hatten, lief der Schweiß in Strömen die Wangen herab. „Bitte die Herrschaften“, sagte ein Diener und öffnete eine Seitentür. Hier waren einige kleine Speisen und Getränke bereitgestellt. Die Männer machten sich sofort über die Getränke her, nur Onkel Karl hielt sich diskret zurück.

Später wurde der Tannenbaum aufgestellt, nun sah schon alles sehr festlich aus. Lina durfte von der Tür zum Raum alles beobachten und sollte sich nicht von der Stelle rühren. Dieser eher kleine Raum hatte noch eine zweite Tür, die nun plötzlich geöffnet wurde, um einige Teller mit Gebäck hereinzutragen. Als der letzte Diener den Raum verlassen hatte, blieb die hintere Tür einen Spalt breit geöffnet und man konnte einen Gang mit kunstvollem Geländer sehen.
Wo es dort wohl hingeht, fragte sich Lina. Noch immer war sie aufgeregt und um sich etwas zu beruhigen, nahm sie das goldene Medaillon der Mutter in die Hand. So schritt sie zur geöffneten Tür. Nur einen kurzen Augenblick wollte sie sehen wo es dort hinging. Die Männer waren alle mit dem Baum beschäftigt und würden sie wohl nicht vermissen.

Vorsichtig schaute Lina durch die geöffnete Tür in beide Richtungen. Links war ein langer Gang, und gleich rechts führte eine breite Treppe einige Stufen herunter. Niemand war zu sehen. Mutig ging sie die wenigen Schritte weiter bis sie am Geländer stand. Unter ihr waren ein kleiner Saal mit einem bunten Steinfußboden und eine offene Tür zu sehen. Eine kühle Zugluft wehte durch den Gang und aus der unteren Ferne hörte sie laute Schritte schnell näher kommen.
Gerade wollte Lina wieder in das kleine Zimmer zurückeilen, als plötzlich genau diese Tür vor ihren Augen zuschlug. Es gab keine Klinke, nur einen Metallknopf, und der ließ sich weder vor- noch zurückdrehen. So ein Pech aber auch. Lina ging trotz der sich nähernden unbekannten Schritte zum Geländer zurück und blickte hinunter, dabei hielt sie noch immer das Medaillon in den Händen.
Unter ihr liefen fünf Männer in golden glänzenden Uniformen durch den kleinen Saal und unterhielten sich laut. Mitten im Saal blieben alle ruckartig stehen und starrten dabei gleichzeitig zu Lina hinauf. Etwas war soeben von oben herabgefallen und lag nun vor dem Stiefel eines der Männer. Lina wollte auf der Stelle im Boden versinken, nun hatte sie auch noch das Medaillon verloren.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte sie ein Herr mit einem Schnurbart. „Aber bitte, treten Sie ruhig näher.“, fuhr er fort und hob das kleine Medaillon auf. Mit zitternden Knien ging Lina langsam die kurze Treppe hinab, sie hatte Tränen in den Augen und gleich würde sie auch richtig heulen. So eine Blamage, der Vater würde sie wohl nie wieder mit auf das Schloss nehmen dürfen.
„Na, na, na, zu so einer hübschen jungen Dame passen doch keine Tränen.“, sagte der Herr. Den anderen Männern rief er aber zu: „Meine Herren, bitte gehen sie schon voraus. Wie sie sehen, muss ich der reizenden Dame noch etwas Gesellschaft leisten.“ Die Männer verbeugten sich kurz und gingen weiter.
„Gestatten Sie, dass ich das eben von ihnen Verlorengegangene zurückgebe. Darf ich bitten?“, sprach der Herr mit dem Bart weiter. „Mir ist ja nichts passiert, aber stellen sie sich vor, Seine Majestät hätte es auf den Kopf bekommen, unvorstellbar!“ Mit diesen Worten gab er Lina das Medaillon zurück.
„Danke sehr“, sagte Lina und machte einen Knicks. „Ach, der König ist doch zu beschäftigt, bestimmt muss er noch in Dresden regieren und kommt erst später. Aber laut geschimpft hätte er sicherlich.“
„Meinst Du wirklich? Sage mir einmal, wie kommst Du eigentlich hierher?“, fragte der Herr weiter.
„Na ich habe mit meinem Vater und dem Onkel… also ich meine dem Herrn Pfarrer die Weihnachtstanne gebracht.“
„Ach so, die habe ich ja noch gar nicht gesehen, ob sie wohl auch dem König gefallen wird, was meinst Du?“
„Ich glaub schon, denn sie ist riesengroß und kommt aus dem Tharandter Wald“, antwortete Lina.
„Na dann wird es wohl keine Probleme geben, denke ich, und Majestät wird sich sicherlich mit seinen Kindern darüber freuen. Wo ist denn dein Vater?“
„Dort oben, die Tür ist zugefallen und ich kam nicht mehr zurück, zuerst war sie ja noch offen. Ich wollte doch zu gern einmal den König sehen und da war ich wohl etwas zu neugierig.“
„Kein Problem, da nehmen wir eben einen anderen Weg, ich kenne mich hier aus. Allerdings ist es nur zu schade, dass Du den König nicht sehen konntest, aber warte einmal, ich habe da eine Idee.“

Sachsen. Friedrich August III. 2 Mark, 1905. J. 267. Aus Auktion Künker 256 (2014), 7761.

Dabei griff er in seine Hosentasche und zog eine silberne Münze heraus. „So hier ist der König und sogar zum Mitnehmen. Bitte einstecken und nicht verlieren junge Dame!“ Lina dankte artig und steckte die Münze sofort ein, ohne sie näher zu betrachten. „Komm, hier entlang“, sagte der Herr und nahm Lina bei der Hand. Nun gingen beide durch einige Zimmer, dann eine Treppe hinauf und schon standen sie im Ballsaal. Noch immer waren die Männer mit dem Tannenbaum beschäftigt. Große Leitern standen herum, und die ersten Kugeln hingen bereits am Baum. Keiner hatte Lina und ihren Begleiter bemerkt.

„Sehen sie, dort steht mein Vater. Aber wo ist Onkel Karl – ich meine der Herr Pfarrer? Ach, ich lerne es wohl nie, aber meinen sie nicht auch, dass es schon etwas komisch ist?“
„Was meinst du damit?“, fragte der Herr.
„Na das ist doch der größte Unfug den es gibt. Zum lieben Gott sage ich immer Du, und zum Herrn Pfarrer soll ich Sie sagen?“ Lina schüttelte den Kopf.
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber das alles klingt sehr plausibel…“ Weiter kam der Herr nicht, denn plötzlich rief der Oberförster von der Leiter herab: „Achtung meine Herren: Seine Majestät, der König.“
Alles drehte sich um und nahm sofort Haltung an. Der freundliche Herr neben Lina winkte kurz in die Richtung der strammstehenden Männer, beugte sich schnell zu Lina herab und sagte: „Ich muss Sie jetzt leider alleine lassen, es war mir eine Ehre.“ Schon war er durch die kleine Tür entschwunden. Nur Lina stand noch im Türrahmen und konnte es nicht glauben. Sie griff sofort in die Tasche und holte das Geldstück hervor. Die Ähnlichkeit war verblüffend, sie hatte sich also Minuten mit dem sächsischen König unterhalten und dabei nichts bemerkt.

Noch oft musste Lina im Leben die Geschichte mit dem letzten sächsischen König erzählen. Manchmal kam etwas dazu, manchmal ließ sie etwas weg. Ist alles Wahrheit und Märchen zugleich? Einiges ist auf alle Fälle wahr: Unsere Großmutter hieß Lina, ihr Vater war ein Förster in der Gegend von Moritzburg, und wir Kinder hörten immer gern zu, wenn Großmutter diese Geschichte erzählte. Nicht immer müssen belegbare oder geschichtliche Tatsachen im Vordergrund stehen. Gerade in der Weihnachtszeit ist alles Unterhaltsame willkommen, denn in solchen Geschichten oder auch Märchen leben unsere Träume.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Weihnachtszeit.