Indien öffnet die Büchse der Pandora

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von Björn Schöpe

15. Februar 2018 – Indien ist reich an Monumenten, die von seiner Geschichte zeugen. Von gewaltigen Anlagen wie dem Taj Mahal bis zu kleineren Schreinen und Grabmalen soll es rund eine halbe Million geben. Doch ein neues Gesetz droht Indiens historischer Hinterlassenschaft eine düstere Zukunft an.

Direkt am Stufenbrunnen Rani Ki Vav in Gujarat, einem UNESCO-Weltkulturerbe, sollte eine Bahntrasse gebaut werden. Das bisherige Gesetz erforderte eine Planänderung – solche Rücksichtnahmen sollen in Zukunft nicht mehr nötig sein. Foto: Bernard Gagnon / CC BY-SA 3.0

Schon 1955 erkannte die damalige Regierung des Landes, dass es nötig war, historische Bauwerke zu schützen – vor Bauprojekten und Hausbesetzern. Das Gesetz über antike Bauwerke und archäologische Stätten und Hinterlassenschaften (Ancient Monuments and Archaeological Sites and Remains Act) von 1958 mit seinen Regelungen von 1959 und einer Ergänzung von 2010 legte für alle anerkannten Nationalen Monumente eine bebauungsfreie Zone von 100 Metern fest. In dieser Zone durfte unter keinen Umständen gebaut werden. Ein Bereich von weiteren 200 Metern galt als „regulierte Zone“. Darin konnten zwar Häuser stehenbleiben, aber Umbauten oder Neubauten mussten von den zuständigen Behörden genehmigt werden. Dieser privilegierte Schutz galt allerdings nur für einen verschwindend geringen Teil von Indiens Monumenten, nämlich nur für die gerade einmal 3.650 registrierten Nationalen Monumente.

Nun will die indische Regierung die „Büchse der Pandora öffnen“, wie der Kongressabgeordnete Adhir Ranjan Chowdhury es bildlich beschrieb. Am 2. Januar 2018 hat die erste Kammer des indischen Parlamentes, die Lok Sabha, einen Änderungszusatz des Gesetzes zum Schutz der Monumente angenommen, das Experten als „unlogisch und irrational“ brandmarken.

Auch durch die Sicherheitszone des Mausoleums von Akbar in Agra, das flächenmäßig größte Grabmal Indiens, hätte nach dem neuen Gesetz die geplante Schnellstraße gebaut werden können. Foto: Adrianne Wadewitz / CC BY-SA 3.0

Denn das neue Gesetz sieht in den Schutzmaßnahmen der Nationalen Monumente eine entscheidende Ausnahme vor: „öffentliche Arbeiten“ dürfen auch im Schutzradius bis direkt am Gebäude vorgenommen werden. Dabei muss es sich um Projekte handeln, die „Infrastrukturmaßnahmen betreffen, die von einer Abteilung oder Behörde der Zentralregierung für öffentliche Zwecke finanziert oder durchgeführt werden. Dies bedeutet, dass diese Maßnahmen insgesamt notwendig sind für die öffentliche Sicherheit und die aufkommende Notwendigkeit auf einer spezifischen Gefahrenlage für die öffentliche Sicherheit insgesamt basiert und keine vernünftige Möglichkeit gegeben ist für eine andere durchführbare Alternative für eine solche Maßnahme außerhalb des geschützten Gebietes“.
Zunächst klingt der Text wenig dramatisch. Doch die Kritiker haben die schon jetzt beklagenswerte Realität in Indien vor Augen. Trotz des totalen Bauverbotes um die Nationalen Monumente herum gibt es zahlreiche Hausbesetzer, die historische Gebäude okkupieren. Nicht selten sollen korrupte Beamte private Baumaßnahmen absegnen, was natürlich illegal ist, nichtsdestotrotz aber praktiziert wird. Die chronische Unterfinanzierung der Denkmalschutzämter sorgt darüber hinaus für den Verfall zahlreicher Monumente, wie ein Studie von 2013 gezeigt hat: Bei 1.655 untersuchten Monumenten stellten die Inspektoren an 546 Anlagen Missbrauch fest!

Bis an den Sommerpalast Sultan Tipus wollte die Regierung eine Krankenhausanlage erweitern. In Zukunft wird das problemlos möglich sein. Foto: Ibrahim Husain Meraj / CC BY-SA 4.0

Anlass für die Gesetzesänderung ist das offen erklärte Ziel der Regierung, Bauprojekte umsetzen zu können, die in eben diesen bisherigen Schutzzonen liegen: Eine hochliegende Schnellstraße konnte bislang nicht direkt am Mausoleum Akbars in Agra realisiert werden; in Bangalore war es nicht möglich, ein Krankenhaus bis an den Sommerpalast Sultan Tipus zu erweitern; und eine geplante Eisenbahntrasse bei dem Stufenbrunnen Rani Ki Vav in Gujarat musste ebenfalls modifiziert werden. Experten betonen dagegen die Notwendigkeit eines Schutzgürtels um alte Bauten, die von Erschütterungen, Abgasen und mechanischen Eingriffen bedroht sind. Doch mit solchen Rücksichtnahmen soll jetzt Schluss sein.

Zwar sieht das Gesetz vor, auch in Zukunft die zuständige Behörde, die National Monuments Authority (NMA), anzufragen. Doch da es sich um eine staatliche Behörde handelt, rechnet niemand damit, dass die NMA der Regierung Stolpersteine in den Weg legen wird. Ohnehin hat die Regierung das letzte Wort. Selbst der Archaeological Survey of India, der ebenfalls für die Bewahrung von archäologischen Stätten zuständig ist, hat 2009 ein Bauprojekt abgenickt, das später ein Gericht in Delhi verbot.

Indiens Regierung setzt nun Baumaßnahmen vor den Kulturgutschutz und riskiert damit den unumkehrbaren Verlust eines Teils seiner Geschichte, wie Historiker und Archäologen nicht müde werden zu betonen. Zynisch könnte man auch sagen: Die Gesetzesänderung legalisiert die Realität, anstatt regulierend zum Schutz der historischen Monumente einzugreifen.

Indische Medien haben wiederholt über die Gesetzesänderung berichtet:

Die Historikerin Nayanjot Lahiri kommentierte die Gesetzesänderung in The Hindu.

Nach dem Beschluss der Lok Sabha fassten LiveMint und The Wire den aktuellen Stand ausführlich zusammen.