„Singe vom Zorn, o Muse, des Peleussohnes Achilleus …“

In den Augen der Bewohner des römischen Weltreiches war die Stadt Ilion mehr als ausgezeichnet. Sie war die Nachfolgerin des antiken Troia, der Stadt, von der Aenaeas, der Stammvater Roms gekommen war. Ilion zeichnete sich nicht nur durch ihr ehrwürdiges Alter aus, ihre Geschichte hatte zudem noch erwiesen, dass die Götter sie auf eine ganz besondere Weise liebten: Der große Göttervater Zeus hatte sie – wie das berühmteste Epos der Griechen, die Ilias, erzählt – stets unterstützt, weil sein eigener Sohn Dardanos ihr Gründer war. Von ehrwürdigem Alter, von den Göttern geliebt und zudem über Aenaeas Mutterstadt der mächtigsten Stadt des ganzen Erdkreises. Die Bürger der Stadt Troia hatten genug Gründe, um auf ihre Heimat stolz zu sein.

Ilion (Troas), AE, Diadumenian, 217-218. Rs. Hektor steht hinter dem erschlagenen Patroklos und wehrt einen Griechen ab. Ein weiterer Krieger will Patroklos fortzuschleppen. Voegtli, Tf. 23j (dieses Exemplar). Aus MMAG 41 (1970), Nr. 376.

Hektor war der Nationalheld der Bewohner von Ilion: Dem mächtigsten Vorkämpfer der Troianer war ein großer Teil der ilischen Münzprägung gewidmet. Auf unserem Beispiel sehen wir ihn inschriftlich bezeichnet – damit jede Verwechslung unmöglich wurde – im Kampf mit mehreren griechischen Helden. Am Boden liegt Patroklos. Die Ilias berichtet uns, dass Patroklos von Hektor mit Achilleus verwechselt worden war. Dieser hatte sich aus dem Kampf zurückgezogen, weil Agamemnon, der oberste Feldherr der Griechen ihm willkürlich seine Kriegsbeute, die Sklavin Briseis, weggenommen hatte. So saß er also in seinem Zelt und beobachtete, wie die Troianer sogar einen erfolgreichen Angriff auf die griechischen Schiffe durchführten und einige in Brand stecken konnten. Patroklos versuchte das Kampfgeschehen zu wenden, indem er die Rüstung des Achilleus anlegte. Er wollte durch die Vorspiegelung des erneuten Eingreifens des bekannten Helden in den Kampf den Griechen wieder Mut machen. Dies gelang anfangs, die Troianer mussten zurückweichen. Der darüber verärgerte Apollon stieß daraufhin Patroklos von hinten, so dass dieser hinfiel und seinen Helm verlor; Hektor stürzte sich auf den vermeintlichen Achilleus und tötete ihn. Nachdem er seine wohlverdiente Beute an sich genommen hatte – wir sehen auf der Münze Patroklos nackt, ohne Rüstung auf der Erde liegen – versuchten zwei griechische Krieger Hektor die Leiche des Patroklos abzujagen. Bei diesen beiden handelt es sich wohl um Aias den Lokrer und Aias den Telamonier, die nach Homer den Leichnam des Patroklos für die Griechen retteten.

Ilion (Troas), AE, Caracalla, 197-217. Rs. Hektor nach rechts, eine brennende Fackel auf die Schiffe der Griechen schleudernd. BMC 92, Tf. XIII, 9 (Rs. stgl.). Aus Numismatik Lanz 109 (2002), Nr. 632.

Die Münzprägung von Ilion zeigte gerne ihren größten Helden, Hektor. Wir sehen ihn den Feuerbrand auf die griechischen Schiffe schleudernd, in einer Quadriga dahingaloppierend oder als mächtigen Vorkämpfer im Streite. Es ist, als wollte die gesamte Münzprägung vergessen machen, dass Hektor letztendlich von Achilleus besiegt wurde. Auch die anderen ilischen Quellen der Kaiserzeit versuchen, den Sieg der Griechen über die Stadt Troia möglichst niederzuspielen und lieber die Augenblicke der Ilias hervorzuheben, in denen ein troianischer Held über die Griechen triumphierte. Zwar war nach Pausanias IX, 18, 5 schon sehr früh der Leichnam des Hektor nach Theben überführt worden – eventuell geht diese Kultübertragung auf die Kontributionen griechischer Staaten zurück, die nach 316 zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt Theben geleistet wurden –, doch alle Liebe und alle Verehrung der Neu-Troianer galt immer noch ihrem alten Heros.
Hektor besaß einen heiligen Hain, ein Heroon mit seiner Statue, sowie ihm zu Ehren begangene Spiele. Er war also fest verankert im kultischen Leben der Stadt Troia. Es soll von ihm sogar eine wundertätige Statue in der Stadt gegeben haben, die sich an einem (natürlich griechischen) Frevler grausam rächte, weil er das Standbild wegen seiner Schändung durch Achilleus, der ja den Leichnam des Hektor hinter seinem Streitwagen hergeschleift hatte, verhöhnte. Vielleicht war es ja nicht das Standbild selbst, das sich wehrte, sondern die stolzen Troianer, die denjenigen verprügelten, der ihren Nationalheiligen verspottete.
Etwas ähnliches war dem Leichnam des Griechen Aias schon widerfahren. Aufgebrachte Bauern und Landleute hatten sich am Grab des Heros versammelt und ihn verspottet. Aias, der sich in einem Anfall von Wahnsinn selbst umgebracht hatte, war für die Bürger von Ilion eine lächerliche Antithese zu ihrem heldenhaften Hektor. Wie konnte ein Volk, dessen Heer sich aus solchen lächerlichen Gestalten zusammensetzte, über Troia gesiegt haben? Es gab nur eines: Homer musste sich geirrt haben. Und wie er sich genau geirrt hatte, das können wir in einer von Dion Chrysostomos frühesten Reden lesen. Die folgenden Zitate sind alle seiner 11. Rede entnommen und werden in der Übersetzung von W. Ellinger wiedergegeben.

„36. Aber den späteren Umschwung der Lage, den Tod Hektors und die Eroberung Troias – lauter Zugeständnisse an den Geschmack des Publikums – hatte er (Homer, Anm. d. Verf.) ursprünglich nicht eingeplant, ja vielleicht hatte er nicht einmal daran gedacht, alles auf den Kopf zu stellen.“
Homer hatte es zuerst gar nicht beabsichtigt, so frech über den Ausgang des Krieges zwischen Griechen und Troianern zu lügen. Er war von seinem eigenen Lokalpatriotismus mitgerissen worden und hatte im Hinterkopf den Gedanken, dass ein Epos wie die Ilias, das zeigte, wie die Griechen die Asiaten besiegten, den Griechen den Mut geben könnte, gegen die persischen Feinde zu kämpfen.

Dion Chrysostomos rekonstruierte also das „tatsächliche“ Geschehen hinter der Ilias. Er tat dies mit der gewohnten Meisterschaft der Sophisten, die ja ausgebildet waren, in Gerichtsreden den Wahrheitsgehalt der Aussage des Vorredners in Frage zu stellen und ihn mit seinen eigenen Behauptungen einer Lüge zu überführen. Die Rede an die Bewohner von Troia ist in erster Linie ein rhetorisches Feuerwerk, in dem ein junger, noch unbekannter Redner zeigt, wie gut er sein Handwerk gelernt hatte; nämlich so gut, dass er sogar den Altmeister Homer der Lüge bezichtigen konnte.
Aus der Zurückhaltung der Dioskuren, der Brüder Helenas, die nicht mit in den Troianischen Krieg gezogen waren, um die Schwester zu befreien, schließt Dion messerscharf, dass Paris auf völlig ehrenhaftem Wege Helena gefreit habe, und dass die anderen griechischen Fürsten nur beleidigt waren, weil sie bei der Brautwerbung keinen Erfolg gehabt hatten.

„53. So nahm Paris denn Helena als seine rechtmäßige Frau und führte sie, nachdem er ihre Eltern und Brüder für sich gewonnen hatte, beglückt und hocherfreut heim. Auch Priamos und Hektor und alle anderen freuten sich über die Hochzeit und empfingen Helena mit Opfern und Gebeten.“
Schnell findet Dion das tatsächliche Motiv für den griechischen Kriegszug: Habgier; das reiche Troia, das den Brautwerber Paris mit so reichlichen Mitteln ausstattete, dass er die anderen Griechen leicht ausstechen konnte, sollte seinen Reichtum mit der restlichen griechischen Welt teilen. Doch Troia war keine leichte Beute. Nicht nur, dass tapfere Helden dort wohnten, auch die Götter, die die Stadt beschützten, blieben ihr treu, so dass die Griechen immer wieder zurückgeschlagen wurden.
Die Heldentaten des Hektor waren so groß, dass Homer nicht ganz umhin konnte, sie zumindest zu erwähnen, wenn er das meiste auch völlig falsch wertete.

„84. Trotzdem kann Homer die Taten Hektors nicht unerwähnt lassen: wie er siegt und die Feinde bis zu den Schiffen verfolgt und alle Helden vor ihm zittern. Da vergleicht er ihn mit Ares, da sagt er, seine Kraft sei wie die des Feuers, und keiner wagt es, ihm zu widerstehen, weil Apollon ihm zur Seite steht und Zeus von oben mit Sturm und Donner Zeichen gibt.“
Besonders beim sogenannten Tod des Patroklos hatte Homer Geschichtsklitterung betrieben. Hier stand der Dichter ja auch vor dem Problem, dass er dessen Tod beim besten Willen nicht verheimlichen konnte, weil in Troia das Grab des Achilleus gezeigt wurde. Was hätte nun näher gelegen, als dass der größte Heros der Griechen, Achilleus, vom größten Kämpfer der Troianer, Hektor getötet wurde. Aber nein, das ließ der griechische Nationalstolz nicht zu. Nur mit Hilfe eines Gottes, Apollon, konnte Achilleus besiegt worden sein. Weil aber nun Hektor eindeutig die Waffen des Achilleus besaß – in der Antike ein Zeichen des Sieges über den Feind –, musste eben ein zweiter Achilleus untergeschoben werden, Patroklos, der lediglich die Rüstung seines Freundes trug.

„103f. Homer war es also in erster Linie darum zu tun, den Tod des Achilleus zu verschleiern, als ob er überhaupt nicht vor Troia gefallen wäre. Da er die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens aber einsah – die Tradition war zu mächtig, und außerdem zeigte man das Grab des Helden –, lässt er ihn wenigstens nicht von Hektor getötet werden, sondern umgekehrt, Achilleus tötet Hektor, der doch alle Menschen bei weitem übertraf; obendrein schändet er den Toten noch und schleppt ihn bis vor die Mauern.“
So konnte natürlich Hektor nicht von Achilleus getötet werden, sondern er wurde nach dem Tode seines Vaters zum König von Troia.

„124. Auch Hektor starb im hohen Alter, nachdem er viele Jahre geherrscht und sich den größten Teil Asiens unterworfen hatte, und wurde vor der Stadt begraben.“

Natürlich hörten die Bewohner von Troia gerne dem jungen Sophisten zu, der ihnen bewies, dass sie – wie sie es ja in ihrer Münzprägung immer schon gerne dargestellt hatten – niemals von den Griechen geschlagen worden waren. Den meisten war es natürlich klar, dass sie in dieser Rede nur dem perfekt durchgeführte Musterstück eines Rhetors lauschten. Aber was machte das schon? Die Troianer machten das gleiche wie viele kleinasiatische Städte, die wider besseres Wissen ihre Abstammung auf die Götter zurückführten und sich selbst in das mythische Geschehen der Vorzeit einbrachten. Die Bewohner von Troia hatten lediglich das Pech, in einer Stadt zu wohnen, deren Mythos durch einen der beliebtesten Autoren des Altertums genauestens überliefert war, so dass auch das häufigste Schönreden die jedem Menschen griechischer Bildung bekannten „Tatsachen“ nicht ändern konnte.