Türkischer Frühling – Teil 4

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16. Mai 2013 – Troia kennt jeder! Aber waren Sie schon einmal in Alexandria Troas, dem wichtigsten Hafen im nordwestlichen Kleinasien? Begleiten Sie uns in dieser Folge des numismatischen Tagebuchs in diese vergessene Metropole und zum fast genauso unbekannten Tempel des Apollon Smintheus.

Mittwoch, 24. April 2013
Eigentlich hatten wir ja nach unseren kyzikenischen Erfahrungen von den kleinen, unbekannten Grabungen, die nur mit drei Punkten in der Straßenkarte eingezeichnet sind, die Nase voll. Nichtsdestoweniger reizte mich das Heiligtum des Apollon Smintheus.

Alexandria (Troas). Kleinbronze, 301-281. Rv. Apollo Smintheus, zu seinen Füßen Maus oder Ratte. Münzen & Medaillen 17 (2005), 793.

Ich hatte vor ewigen Zeiten auf einer eigentlich simplen, aber besonders gut erhaltenen Bronzemünze von Alexandria Troas neben den Füßen des Apollon Smintheus eine kleine Maus entdeckt, und das hatte mich natürlich neugierig gemacht. Der Mäusetöter oder Mäuseverschlinger, was für ein wunderbarer Beiname für einen Gott! Dass ich mir sein Heiligtum einmal ansehen wollte, kann man sich vorstellen.
Und Alexandria Troas sollte ganz in der Nähe liegen, bei Dalyan, wie ein vor Ort gekaufter Führer verkündete. Das sollte sich doch finden lassen! Jedenfalls dachten wir so, als wir von Assos aufbrachen. Nach gut einer halben Stunde vergeblichem Herumkurven am Zielort waren wir uns nicht mehr so sicher. Hinweistafeln sind in türkischen Augen nur etwas für Weicheier. Natürlich gibt es sie! Im 40 Kilometer entfernten Assos und im 25 Kilometer entfernten Troia. Da blieb nur eine Methode: In immer größeren Kreisen konzentrisch um den Ortskern fahren, bis man völlig unerwartet vor der Grabung steht.

Ein Blick auf die Thermen von Alexandria Troas. Foto: KW.

Wir wurden herzlich begrüßt! Ein einsamer Türke wartete auf alle vorbeifahrenden Touristen. Das können nicht viele sein, wenn man die Seltenheit der Hinweistafeln in Betracht zieht. Jedenfalls legte er so viel Enthusiasmus in seine Begrüßung, dass seine fehlende Beherrschung irgendeiner ausländischen Sprache nicht ins Gewicht fiel.

Inschriften in Alexandria Troas. Foto: KW.

Ismail Hakki Tunçer zeigte uns mehr Details der Grabung von Alexandria, als wir sie allein je hätten entdecken können. Er öffnete alle Tore, so dass wir auch die Kostbarkeiten im verschlossenen Schuppen sehen konnten. Begeistert erklärte er uns, dass er den Epigraphiker Elmar Schwertheim kenne, und er zeigte uns sogar seine Visitenkarte. (Sehr geehrter Herr Schwertheim, sollten Sie jemals diese Zeilen lesen, so möchte ich nicht versäumen, Ihnen mitzuteilen, dass Sie in Alexandria Troas einen überaus treuen Fan haben!)

Lysimachos. Goldstater, 297/6-282/1, Alexandria Troas. Aus Auktion Gorny & Mosch 207 (2012), 115.

Es war Antigonos Monophtalmos, der um das Jahr 306 v. Chr. eine Stadt namens Antigonia gründete, wo vorher ein kleiner Ort namens Sigeia gestanden hatte. Antigonos hatte große Pläne. Die Lage war ideal, um eine neue Hafenmetropole zu gründen. So blieb den Bewohnern von Neandreia, Larissa, Hamaxitos, Kebren und Skepsis nichts anderes übrig, als ihre alte Heimat zu verlassen, um sich von Antigonos neu in seiner Stadt ansiedeln zu lassen. Verständlich, dass sie ihrem Herrscher keine allzu große Anhänglichkeit entgegenbrachten. Es wird ihnen nicht viel ausgemacht haben, dass 301 v. Chr. Lysimachos die Stadt übernahm und nach Alexander III. in Alexandria umbenannte.

Antiochos Hierax, 241-227. Tetradrachme, Alexandria Troas. Aus Auktion Gorny & Mosch 207 (2012), 409.

281, also nach der Schlacht von Kurupedion, fiel Alexandria an die Seleukiden, die dort zeitweise sogar Münzen prägten. Genauer gesagt unter Antiochos Hierax, der sich im Bürgerkrieg gegen seinen Bruder nach Kleinasien zurückgezogen hatte, von wo ihn Attalos I. von Pergamon dann auch vertreiben sollte.

Alexandria Troas. Tetradrachme, ca. 102/1-66/5. Rv. Apollon Smintheus. Aus Auktion Gorny & Mosch 207 (2012), 284.

Damit wurde Alexandria pergamenisch und später gemäß des Testaments von Attalos III. römisch. Mehr als 100.000 Einwohner soll der Hafen in seiner Blütezeit gehabt haben. Nach modernen Schätzungen erstreckte sich die Stadt über rund 400 Hektar.

Alexandria Troas. Trebonianus Gallus, 251-253. Rv. Der Stadtrat von Alexandria Troas: neun Dekurionen im Halbkreis, die beiden äußeren auf kurulischen Stühlen. Aus Auktion Gorny & Mosch 204 (2012), 1749.

Unter Augustus entstand eine römische Colonia mit dem Namen Colonia Alexandria Troas, weshalb die kaiserzeitlichen Münzen der Stadt lateinische Aufschriften tragen. Von hier segelte Paulus nach Europa, was vielleicht dazu führte, dass ein Bischofssitz eingerichtet wurde, den die orthodoxe Kirche immer noch als Titularbistum besetzt. Nichtsdestotrotz war die Stadt im 14. Jahrhundert mehr oder minder verfallen, was sie zu einem optimalen Steinbruch machte, aus dem sich die osmanischen Herrscher immer wieder bedienten, wenn es galt, eine Moschee auszustatten.

Herr Tunçer erklärt uns das römische Bad. Foto: KW.

Die Überreste von Alexandria Troas sind nicht wirklich spektakulär, aber trotzdem interessant. Es existiert ein großer Badekomplex, der von Herodes Atticus errichtet wurde.

Inschriften, wohin man schaut. Foto: KW.

Ob es hier war, wo das Team des DAI die wichtigen Inschriften fand? In drei kaiserlichen Reskripten legte Hadrian fest, welche Preisgelder für Sieger auszuschreiben waren, und welche Sanktionen bei Verstößen zu erheben seien. Wie auch immer, jedenfalls kommt man beim Besuch der Grabung an jeder Menge Inschriften vorbei.

Kostbarkeiten im Depot: Ein Säulenkapitell mit Akanthusverzierungen, darauf liegend ein echtes Akanthusblatt. Foto: KW.

Interessant war auch der Blick ins Depot. Hier lagen gut erhaltene Architekturteile wie zum Beispiel verschiedene Akanthuskapitelle. Wie nahe verbunden diese Schmuckform mit realen Vorbildern ist, führte uns Herr Tunçer mit echten Akanthusblättern vor.

Akanthus. Foto: KW.

Akanthus ist eine im Mittelmeerraum weit verbreitete Pflanzenfamilie mit gelappten oder gezähnten, meist ziemlich stacheligen Blättern.

Verbindung zwischen Säulenteilen. Foto: KW.

Erhalten war bei einigen Kapitellen auch noch der Eisenstift, der einst die verschiedenen Säulentrommeln aufeinander gehalten hat, fest eingegossen mit Blei.

Tempel. Foto: KW.

Man sieht ferner einen römischen Tempel, der wohl unter Augustus erbaut wurde.

Die römische Straße mit byzantinischen Läden. Foto: KW.

Besonders imposant ist ein ausgegrabenes Straßenstück, an dem man gut die kleinen Läden erkennt, die den Weg auf einer Seite säumten.

Tempel des Apollon Smintheus. Foto: KW.

Nur wenige Kilometer weiter liegt der Tempel des Apollon Smintheus, der im Gegensatz zu Alexandria Troas ausgezeichnet ausgeschildert ist. Hier wartet alles auf einen Besucheransturm. Drei Säulen wurden (mehr schlecht als recht) wieder aufgerichtet, um ein nettes Fotomotiv zu bieten. Es gibt ein Kassenhäuschen, an dem man sein Eintrittsticket löst. Daneben entdeckt man ein kleines Café – und sogar Hinweisschilder auf eine Toilette, untrügliches Anzeichen für den bevorstehenden Massentourismus.

Hamaxitos (Troas). Bronzemünze, 400-310 v. Chr. Apollonkopf. Rv. Apollon Smintheus. Aus Gorny & Mosch 164 (2008), 178.

Allerdings wird man den meisten Besuchern wohl erst erklären müssen, was für ein besonderer Gott hier lebte. Diesen Gott übernahm die neue Gründung Alexandria Troas von seinen vorhergehenden Gemeinden. Im 4. Jahrhundert v. Chr. war Hamaxitos die Heimat des Smintheus gewesen – und ziemlich stolz darauf, weil es sich so an die Ilias anbinden konnte.

Alexandria (Troas). Caracalla, 197-217. Bronze. Aus Lanz 150 (2010), 336.

Zu Beginn der Ilias ruft der trojanische Apollonpriester Chryses den Gott als den Sminthier an, weil Agamemnon ihm seine Tochter Chryseis gestohlen hat und nicht zurückgeben will. Wie wir alle wissen, schickte Apollon als Strafe die Pest, eine Krankheit, die man schon in der Antike mit den kleinen häuslichen Nagetieren verband. Apollon ist als Urheber von Krankheit in seiner Gestalt als Smintheus auch immer mit Pfeil und Bogen abgebildet.

Alexandria (Troas). Autonom. Bronze, ca. 180-220. Rv. Hirte vor Statue des Apollon Smintheus über Grotte. Aus Auktion Rauch / La Galerie numismatique 2009, Nr. 31.

Diese Erklärung der Anrufung „Smintheu“ in der Ilias, fanden auch andere Dichter nicht ganz einleuchtend. Jedenfalls versuchten sich Kommentatoren seit der Mitte des 7. Jahrhunderts an schlüssigen Lösungen. So fabulierte ein ephesischer Dichter namens Kallinos einen Mythos, nachdem Apollon trojanischen Kretern ein Orakel erteilt habe, das ihnen befahl, dort zu bleiben, wo sie die „Erdgeborenen“ angreifen würden. Auf dem Gebiet von Hamaxitos stießen sie auf Mäuse. Deshalb sei Apollon als Sender der Mäuse eben der Smintheus.

Heiliger Bezirk des Gottes mit Blick auf den Tempel. Foto: KW.

Diese dichterische Version setzte sich durch, und das in der Form, dass der Bildhauer Skopas von Paros, der wie Strabo berichtet die Statue des Apollon Smintheus geschaffen haben soll, dem Gott eine kleine Maus als Attribut neben den Fuß setzte.

Ein merkwürdiges Phänomen: verschalte Inschriften. Foto: KW.

Ausgegraben wird das Smintheon derzeit von türkischen Archäologen. Sie konnten feststellen, dass der heute sichtbare Tempel zwischen 150 und 125 v. Chr. erbaut wurde.
Etwas unverständlich war auf den ersten Blick die Verschalung aller Inschriften, wie sie in großen Mengen links und rechts von der Prozessionsstraße in situ zu sehen waren.

Schutz gegen Wetterunbilden oder konkurrierende Wissenschaftler? Foto: KW.

Gegen Wetterunbilden konnten diese Vernagelungen nicht gedacht sein, da sie auch Inschriften bedeckten, die unter einem Dach weit besser geschützt waren als viele Inschriften, die wir auf anderen Grabungen oder im Freigelände von Museen gesehen hatten. Zuletzt kam mir der Verdacht, man habe dadurch eine „vorzeitige“ Publikation durch „feindliche“ Wissenschaftler verhüten wollen. Honi soit qui mal y pense.

Rekonstruktion einer Mühle. Foto: KW.

Nicht sichtlich zur Ausgrabung gehörte eine trotzdem hochinteressante Rekonstruktion einer alten Mühle …

Rekonstruktion eines Wagens mit Scheibenrädern. Foto: KW.

… und eines archaischen Wagens mit Scheibenrädern.

Das Team von Dr. No / Assos. Foto: KW.

Und damit war unsere Zeit in der Troas endgültig zu Ende. Wir gingen ein letztes Mal zu Dr. No Köfte essen. Hatte ich schon von der herzerwärmenden Freundlichkeit berichtet, mit der wir in diesem Restaurant aufgenommen wurden? Als wir am zweiten Abend kamen, strahlte Frau Yilmaz über das ganze Gesicht. Am dritten Tag gab sie uns die Hand. Und am vierten und letzten Tag umarmte sie uns wie alte Freunde. Nein, sie umarmte mich. Ihr Mann umarmte Kurt. Und dann wurde uns zum Abschied eine Tüte voller Äpfel eingepackt.

Die Herzlichkeit, mit der in der Türkei die Gastgeber ihren (zahlenden) Gästen begegnen, ist immer noch unglaublich und mehr vom homerischen Geist als der Spekulation auf ein Trinkgeld bestimmt. Ich habe mich immer wieder geschämt, wenn ich daran dachte, wie wir hier mit Fremden umgehen. In Sachen Gastfreundschaft können wir viel von den Türken lernen.

Begleiten Sie uns also in unser nächstes Quartier, das unvergleichliche Phokäa – unvergleichlich nicht wegen seiner Münzprägung oder gar seiner Ruinen, sondern wegen des einzigartigen Frühstücks im Hotel Erguvan. Außerdem besuchen wir nächste Woche die Stadt Pergamon.

Alle Teile der Serie „Türkischer Frühling“ finden Sie hier.