mit freundlicher Genehmigung des MoneyMuseum
In unserer Serie „Die Zürcher und ihr Geld“ nehmen wir Sie mit in die Welt des vergangenen Zürich. Am 1. Oktober 1869 öffnete Bankdirektor Karl Stadler im Beisein des Prokuristen Heinrich von Wyss in der Züricher Filiale den Safe der Eidgenössischen Bank. Er war leer…
Zu diesem Hörspiel gibt es wie auf einer guten DVD ein Making of, also welcher numismatisch-historische Hintergrund zu diesem Gespräch gehört.
1. Oktober 1869. Bankdirektor Karl Stadler öffnet im Beisein des Prokuristen Heinrich von Wyss in der Zürcher Filiale der Eidgenössischen Bank der Safe. Zeichnung von Dani Pelagatti / Atelier bunterhund. Copyright MoneyMuseum Zürich.
Bankdirektor: Nein!
Prokurator: Mein Gott. Was sollen wir denn nun tun?
Dann ist es also wahr.
Das hätte ich nie von Emil Schärr gedacht.
Unsere ganzen Bargeldreserven sind weg.
Was werden nur die Aktionäre sagen, und die Zentrale in Bern?
Aber die in Bern haben uns doch diesen Emil Schärr als Aufpasser geschickt!
Ich kann es nicht glauben. So ein netter, anständiger, junger Mann. Wer hätte das ahnen können? Immer war er höflich. Und er war der einzige, der dieses neue französische Buchhaltungssystem wirklich durchschaute. (Pause) Mein Gott, Herr Direktor, meinen Sie er ist geflohen, weil wir heute unsere Generalrevision machen.
(völlig tonlos) Ich hätte es wissen müssen. Man hat mich gewarnt. Ein Bankdirektor namens Schärr soll in Genf riesige Summen verspekuliert haben. Und ich habe den jungen Mann gestern noch gefragt, was es damit auf sich habe. Wissen Sie, Wyss, was er gesagt hat? Es müsse ein Irrtum sein. Er hätte sich auf eine Stelle als Bankdirektor beworben. Und ich habe ihm geglaubt!
(genauso tonlos) Sie meinen, das ist nicht alles, was fehlt. Er hat noch mehr unterschlagen?
Viel mehr, Wyss, viel mehr. Wir sind ruiniert.
O mein Gott.
Wyss. Wir müssen jetzt die Polizei verständigen. Und dann telegraphiere ich den Herrn in der Zentrale.
Schweiz. 20 Franken 1871 B. Probe. Aus Auktion Münzen & Medaillen Deutschland GmbH 22 (2007) 1751.
Making of:
Als der Bankdirektor Karl Stadler und sein Prokurator Heinrich von Wyss am Morgen des 1. Oktober 1869 den Tresor der Eidgenössischen Bank öffneten, waren alle Bargeldreserven verschwunden. Entnommen hatte sie laut Aussage der Putzfrau der Kassier Emil Schärr. Er war mit etwa 41.000 Franken Bargeld geflohen, weil er die Entdeckung seiner Unterschlagungen befürchtete. Die unglaubliche Vertrauensseligkeit und Inkompetenz seiner Vorgesetzten hatten es dem jungen Mann ermöglicht, Summen in Millionenhöhe aus dem Vermögen der Eidgenössischen Bank für seine Zwecke abzuzweigen.
Die Eidgenössische Bank war im Jahr 1864 in Bern gegründet worden. Sie hatte vier Filialen, je eine in St. Gallen, Lausanne, Genf und eben in Zürich. Zum Direktor der am 1. November 1866 eröffneten Zürcher Filiale wurde Karl Stadler bestellt. Er hatte neun Jahre lang ein eigenes Bankgeschäft geführt, ehe er für ein Gehalt von jährlich 10.000 Franken in den Dienst der Eidgenössischen Bank trat.
Seine Untergebenen waren mit einer einzigen Ausnahme Männer und Frauen, die bereits in seinem liquidierten Bankhaus gearbeitet hatten. Emil Schärr dagegen hatte die Berner Zentrale direkt eingestellt. Aufgrund seiner hervorragenden Referenzen – mit 19 1/2 Jahren hatte Schärr bereits in vier verschiedenen Banken im In- und Ausland gearbeitet – machte man ihn gegen eine Kaution von 20.000 Franken zum Kassier. Schärr selbst besaß das Geld nicht, um die geschäftsübliche Bürgschaft in Höhe von vier Jahresgehältern zu leisten. So standen fünf Bürger seines Heimatortes Mümriswil für ihn ein.
Schärr hatte zuletzt in Paris gearbeitet. Während dieser Jahre wurde er mit dem neuartigen französischen Buchungssystem vertraut, das die Eidgenössische Bank für ihre Buchhaltung nutzen wollte. Dabei wurden nicht mehr die einzelnen Buchung in ein großes Hauptbuch eingetragen, sondern lediglich die Endsummen der verschiedenen Konten. Das System war wesentlich übersichtlicher, wenn es darum ging, Gewinn und Verlust zu ermitteln, allerdings musste man zur Kontrolle der einzelnen Buchungen die verschiedenen Konten miteinander vergleichen.
Schärr war der einzige im Zürcher Kontor der Eidgenössischen Bank, der das ungewohnte Buchungssystem wirklich beherrschte. Alle anderen – Chef, Mitarbeiter, Buchhalter und Revisoren – verließen sich völlig auf ihn. Schärr wuchs auf Grund seiner Kenntnisse in die Doppelfunktion eines Kassiers und Chefbuchhalters hinein – eine hervorragende Ausgangsposition um Unterschlagungen im großen Stil zu betreiben.
Schweiz. 5 Franken 1874 B, Bern. Aus Auktion Münzen & Medaillen GmbH Deutschland 31 (2009) 622.
Pro Tag liefen durchschnittlich 880.000 Franken durch die Bücher der Zürcher Filiale der Eidgenössischen Bank. Und Schärr bediente sich davon reichlich, indem er Einzahlungen falsch verbuchte. Dieses Geld benutzte er, um im großen Stil an den Börsen zu spekulieren. Zunächst mag er beabsichtigt haben, sich die Gelder von der Eidgenössischen Bank nur „auszuleihen“. Er hoffte wohl durch den Kauf und Verkauf von Aktien genug zu verdienen, um die 20.000 Franken Kaution in einer großen Geste seinen Mitbürgern zurückerstatten zu können. Doch dabei erlitt Schärr Verluste. Er musste neue Gelder unterschlagen, um Forderungen zu decken und weiter zu spielen im großen Roulette des Aktiengeschäfts.
Schärrs Aktivitäten blieben nicht unbemerkt. Seit Ende August 1869 erhielt Bankdirektor Stadler eine ernsthafte Warnung nach der anderen. Trotzdem blieb sein Vertrauen unerschütterlich. Dazu mag beigetragen haben, dass er seinen Kassier für einen Kontrolleur des Bankdirektoriums in Bern hielt. Zum Handeln zwang ihn erst der Brief, den ihm sein Genfer Kollege am 28. September schrieb. Darin stand folgendes: „Herr Stadler. Es wird mir von glaubwürdiger Seite convidentiell mitgetheilt, dass unser dortiger Kassier Schärr wahrscheinlich Namens eines Syndicats an der Genfer Börse gespielt und einem in letzter Woche in Genf fallit gegangenen Mackler über Fr. 300.000 Differenzen habe ausbezahlen lassen. Auch wurde auf dem Genfer Platz schon wiederholt über einen ‚Directeur Schärr de la banque fédérale‘ Nachfrage gehalten. Wir ersuchen Sie, darüber den Herrn Kassier Schärr des Bestimmtesten zur Rede zu stellen und von ihm eine klare und offene Antwort zu verlangen, denn dass die Sache für unsere Anstalt zu wichtig (ist), werden Sie begreifen.“
Nun bequemte sich Stadler allmählich, der Sache nachzugehen. Er befragte am 30. September morgens seinen Kassier. Schärr erklärte, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Stadler gab sich damit zufrieden und besuchte eine Feuerwehrübung. Gegen Abend kehrte er ins Kontor zurück, beriet sich mit seinem Prokurator Wyss und beschloss, eine Generalrevision durchzuführen, allerdings nicht sofort, sondern am nächsten Tag. So konnte die Generalrevision gleichzeitig als vierteljährliche Revision deklariert werden. Als Stadler und Wyss am nächsten Morgen ins Büro kamen, um ihre Revision durchzuführen, fanden sie den Tresor ausgeräumt und Schärr geflohen.
In den nächsten Wochen wurde eine gewaltige Polizeiaktion ins Werk gesetzt. Man schickte 6.000 Steckbriefe mit dem Foto und einer Beschreibung Schärrs an alle größeren Städte. 10.000 Franken Belohnung wurden auf seine Ergreifung ausgesetzt. Und während nach dem Entflohenen gefahndet wurde, sahen sich Fachleute die Bücher der Eidgenössischen Bank an. Die Fehlbeträge, welche Schärr verspekuliert hatten, wurden zum Tagesgespräch: Statt sich gegenseitig nach dem Befinden zu fragen, leiteten die Zürcher ihre Konversation mit den Worten ein: „Und, wie groß ist jetzt das Defizit?“ Am 29. November 1869 wurde anlässlich einer Aktionärsversammlung eine vorläufige Endsumme genannt: 3.248.658 Franken und 17 Rappen. Sie sollte noch steigen.
Während die Buchhalter ausrechneten, wie viel der kleine Kassier der großen Bank geraubt hatte, gelang es am 9. November 1869, Schärr beim Überqueren der italienisch-österreichischen Grenze zu verhaften. In Zürich wurde ihm der Prozess gemacht.
Die Schlussplädoyers wurden am 2. Februar 1870 gehalten. Der Staatsanwalt beschuldigte Schärr der List, mit der er die Buchhaltung benutzt hatte, die niemand im Kontor richtig verstand. Genau darin sah der Verteidiger Schärrs eine unglaubliche Nachlässigkeit, ja Dummheit der Geschäftsführung, welche die Unterschlagungen Schärrs erst möglich gemacht hatte. Seine Verteidigungsrede endete folgendermaßen: „(Die Tat) wurde möglich nur, weil man dem Angeklagten Alles blind überließ, und zwar von Bern und von Zürich aus, von Bern aus ohne weiteres, von Zürich aus, weil man in dem Kassier einen von Bern bestellten Aufpasser sah. … Den jungen, unerfahrenen Mann hat man der Versuchung ausgesetzt, urteile man nicht zu hart, weil er ihr erlag!“
Die Beratung des Gerichts dauerte über eine Stunde. Schärr wurde zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt und zur Bezahlung des durch ihn angerichteten Schadens. Letzteres war für den ruinierten Schärr natürlich unmöglich.
In der nächsten Folge begleiten wir einen amerikanischen Journalisten, der die sozialen Gegensätze Zürichs erlebt, in der Folge „Arm und Reich“.
Alle anderen Folgen der Serie finden Sie hier.
Die Texte und Zeichnungen entstammen der Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung im MoneyMuseum Zürich. Vertonte Auszüge sind als Video hier erhältlich.