Die Zürcher und ihr Geld 14: Arm und Reich

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mit freundlicher Genehmigung des MoneyMuseum

In unserer Serie „Die Zürcher und ihr Geld“ nehmen wir Sie mit in die Welt des vergangenen Zürich. In dieser Folge geht es um unterschiedliche Welten im Jahr 1887. Ein amerikanischer Journalist besucht zunächst den Zürcher Vorort Aussersihl und danach einen Geschäftsmann in seiner Villa. Dazu gibt es wie auf einer guten DVD ein Making of, also welcher numismatisch-historische Hintergrund zu diesem Gespräch gehört.

September 1887. John Fix, ein amerikanischer Journalist, besucht den Zürcher Vorort Aussersihl und kommt mit einer Einwohnerin ins Gespräch. Zeichnung von Dani Pelagatti / Atelier bunterhund. Copyright MoneyMuseum Zürich.

Journalist: (zu sich selbst) Mein Gott, die vielen Kinder. Die tragen ja alle nur ein Hemd! Diese verkrümmten Beinchen, das ist doch Knochentuberkulose. Und diese Häuser. Ein richtiger Slum. Das Leben hier muss die Hölle sein! Ich brauche unbedingt ein Interview! Den Bericht kann ich gut verkaufen. (Pause, dann zu einer Passantin gewandt) Entschuldigen Sie, ich schreibe für den Herald Tribune, New York. Hätten Sie Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?

Bewohnerin: Wenn’s sein muss, was wollen Sie denn wissen?

Sie leben hier?

Wo sonst.

Ähm, könnten Sie mir bitte ihre Wohnung beschreiben?

Ein Loch mit drei Zimmern, für das wir 350 Franken im Jahr bezahlen.

Und dort leben Sie mit ihrem Mann und den Kindern. Kinder, wie viele Kinder haben Sie?

Leben tun noch drei.

Dann sind Sie also zu fünft in der Wohnung.

Schön wär’s, es ist Sommer, da kommen die Saisonarbeiter. Und da vermieten wir ein Zimmer. Hilft uns, die Wohnung zu zahlen.

Dann müssen Sie also sehr sparen.

(müde, ironisch) Sparen? Mein Gott, Sie haben keine Ahnung von unserem Leben.

Erzählen Sie mir davon.

Wir kommen vom Land. War einfach kein Bleiben mehr dort. Wir haben gedacht, in der Stadt wird’s besser. Aber auf meinen Mann hat niemand gewartet. Der hat ja nichts gelernt. Jetzt arbeitet er als Dienstmann am Bahnhof.

Was verdient er denn so?

Theoretisch bekommt er 50 Rappen in der Stunde. Wenn er etwas Schweres transportieren muss, sogar 75 Rappen. Im Sommer geht es, mit den vielen Touristen. Die brauchen immer mal wieder einen Gepäckträger. Aber im Winter steht er manchmal Stunden rum bis er einen Auftrag bekommt. Und dann versäuft er auch noch das bisschen Geld, das er verdient.

Der Alkohol ist ein Problem?

Kann man wohl sagen.

Das Geld, das ihr Mann verdient, reicht also nicht zum Leben?

Nein, ich verdiene selbst etwas dazu. Aber in der Baumwollweberei, wo ich arbeite, geht es nicht mehr so gut. Die haben nicht jeden Tag Arbeit für mich.

Dann müssen Sie also hungern?

Nein, so schlimm ist es nicht. Für ein paar Kartoffeln reicht es immer irgendwie. Man kann ja anschreiben lassen. Die kosten so um die 7 Rappen und machen satt. Aber ich würde so gerne mal ein richtiges Essen auf den Tisch bringen. Mit Brot, Rindfleisch, Milch und, ach, vielleicht sogar mit Butter.

Was würde das denn kosten?

Das Kilo Mischbrot kostet beim Konsumverein um die 30 Rappen. Für den Liter Milch verlangen die knappen 20 Rappen. Ein Kilo gutes Rindfleisch könnte ich für etwa einen Franken 50 bekommen. Und die Butter, die ist unerschwinglich, da zahlt man 60 Rappen für ein halbes Pfund.

Das wären dann zusammen 2 Franken 60. Hier, gute Frau, servieren Sie Ihrer Familie das Festmahl.

Anschließend besucht John Fix einen Geschäftsmann in seiner Villa.

Der amerikanische Journalist John Fix besucht den Geschäftsmann Keller in seiner Villa im noblen Wohnort Enge. Zeichnung von Dani Pelagatti / Atelier bunterhund. Copyright MoneyMuseum Zürich.

Geschäftsmann: Zigarre gefällig, Herr Fix, oder lieber einen Cognac?

Journalist: Wenn es nicht zu viel Mühe macht, Herr Keller, beides.

Aber nein, keineswegs. (zu seinem Dienstmädchen gewandt) Balbine, zwei Cognac und vergiss die Zigarren nicht. (Wieder zu Mr. Fix) Und, wie gefällt Ihnen unsere schöne Stadt Zürich?

Nun, nicht einfach zu sagen. Ich war heute im Aussersihl. Ich hätte nicht erwartet, so nahe bei Zürich einen Slum zu finden.

Ja, es ist schlimm. Meine Frau und ich, wir spenden jeden Monat für den Armenverein. Und den großen Wohltätigkeitsbazar in der Tonhalle, den haben wir mit organisiert. Haben Sie davon gehört? Es wurde sogar eine orientalische Straße mit einem türkischen Café nachgebaut. Ein riesiger Erfolg. 59.300 Franken Reingewinn haben wir für die Armen erzielt.

Beeindruckend.

Und was haben Sie sonst in Zürich gesehen?

Nun, das übliche. Natürlich die brandneuen Quai-Anlagen.

Ja, die sind erst am 2. Juli eingeweiht worden. Das war ein Fest.

Dann habe ich mit der Eisenbahn einen Ausflug nach Luzern gemacht.

Da gibt es doch diese Vorzugsbillete für Sonntag. 8 Franken die ganze Strecke, habe ich gehört.

Stimmt, allerdings bin ich an einem Wochentag gefahren, da war es 2 Franken teurer.

2 Franken sind viel Geld.

O ja, dafür habe ich gestern im Baur au Lac, eine sagenhafte Forelle, fangfrisch aus dem See, gegessen.

(lacht) Ja, ich hatte das letzte Mal eine Seezunge à la Colbert – auch für 2 Franken. Nur der Champagner mit 12 Franken, den fand ich reichlich teuer.

(lacht) Sie haben sicher einen Veuve Cliquot bestellt?

(lacht immer noch) Ich bitte Sie, das ist doch der einzige, den man trinken kann.

Die Hotels hier in Zürich sind wirklich großartig.

Ja, wir bieten unseren Touristen einiges. Und die lohnen es uns. 21.490 Fremde übernachteten allein in diesem August in Zürich.

So viele? Das hätte ich nicht gedacht.

Wie lange bleiben Sie denn noch?

Drei Tage.

Da kann ich Ihnen noch ein paar Tips geben. Also, Sie müssen unbedingt das Helmhaus besuchen, dort sind die Funde von urgeschichtlichen Pfahlbauten aus dem Zürichsee ausgestellt. Der Eintritt kostet 50 Rappen. Dann müssen Sie sich die neue polytechnische Hochschule ansehen. Von dort aus haben Sie einen sagenhaften Blick über ganz Zürich. Und in der Universität gibt es eine ausgezeichnete Sammlung zur Naturgeschichte. Geöffnet ist zwar nur am Donnerstag, aber der Abwart schließt Ihnen für ein Trinkgeld von 50 Rappen gerne auf. Nicht zu vergessen die Bibliothek. Kostet zwar auch 50 Rappen Eintritt, aber es lohnt sich. Oh, und jetzt hätte ich beinahe unser neues Chemielabor vergessen. Allein die Baukosten haben sich auf 1,8 Millionen Franken belaufen. Aber dafür haben wir das modernste, was es derzeit in diesem Bereich in ganz Europa gibt. Und dann

Halt, halt, das reicht schon, ich bleibe noch drei Tage in Zürich, nicht drei Wochen.

Schweiz. 20 Franken 1896, Bern. Aus Auktion Münzen & Medaillen GmbH 22 (2007) 1750.

Making of:
Arm und Reich hat es immer gegeben, doch selten fielen die Unterschiede zwischen Armen und Reichen so ins Auge wie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Dies lag zum Teil daran, dass sich im Zuge der Industrialisierung in direkter Nachbarschaft zu durchmischten oder gar eleganten Wohngebieten soziale Brennpunkte bildeten, in denen fast ausschließlich Arme lebten: Immer mehr Bewohner der von Krisen heimgesuchten ländlichen Gebiete suchten ihr Glück in der Stadt, wo sie auf eine gut bezahlte Arbeitsstelle in einer Fabrik hofften. Sie kamen mit wenig Geld und brauchten deshalb möglichst billigen Wohnraum. So zogen sie dorthin, wo sie nicht viel zahlen mussten, um eine Bleibe zu finden, und dies war eben in den Slums der damaligen Zeit.

Das bekannteste Armenviertel Zürichs lag in der Gemeinde Aussersihl. Dort waren die Mieten rund dreimal billiger als im Nobelviertel Enge, allerdings waren die Wohnungen auch dementsprechend kleiner. Zahlte man 1896 in Aussersihl durchschnittlich 641 Franken im Jahr für eine Wohnung, so waren es in der Enge 1.859 Franken. Allerdings standen dem Wohnungsbesitzer in der Enge dafür 5,23 Zimmer zur Verfügung, während es im Aussersihl nur 3,65 Zimmer waren. Pro Kubikmeter gemietete Wohnung war der Unterschied also gar nicht so groß: Im Aussersihl kostete der Kubikmeter 4,01, in der Enge 4,51 Franken. Billig hieß also schon damals nicht unbedingt preiswert. Um das Geld für die Miete aufzubringen, nahmen im Aussersihl vier von fünf Mietern einen Hausgast auf, während es in der Enge nur halb so viele waren.

Die Lebensverhältnisse im Aussersihl waren für die meisten seiner Bewohner schrecklich. Wir haben die Schilderung des amerikanischen Journalisten zu Beginn unseres Hörspiels der Autobiographie eines Zürcher Zeitzeugen entnommen, nämlich der des Arztes Fritz Brupbacher. Im Original lautet der Text folgendermaßen: „Und diese Leute waren zumeist Leute, denen es recht schlecht ging. Sie hatten viele Kinder. Da liefen sie herum mit ihren Schnudernasen, oft auch auf der Strasse, nur mit einem Hemd bekleidet, rachitisch, mit krummen Beinen und dünnen Knochen, mit Hautausschlägen, mit Drüsen behaftet. Geschwister, elf Monate auseinander – eine Unmenge. (…) Es wurde nicht geheizt, nicht beleuchtet, da man sparen wollte. Und so lagen denn – auch da, wo mehrere Zimmer vorhanden waren – die Menschen der Wärme halber alle in einem Zimmer – in ein oder zwei Betten eine ganze Herde.“

Rigorose Sparsamkeit war allen Frauen im Aussersihl selbstverständlich. Allerdings haben wir für unser Hörspiel eine Familie gewählt, deren Einkommen sich am unteren Ende der Skala bewegte. Ein Dienstmann verdiente wegen der langen Wartezeiten zwischen seinen Aufträgen im Durchschnitt nicht besser als ein einfacher Handlanger, der bei 10 Stunden Arbeit durchschnittlich auf 3,10 Franken Taglohn kam. Facharbeiter waren gefragter. Sie konnten fast auf den doppelten Lohn kommen. Ein Gießer in einer Metallfabrik zum Beispiel verdiente um die 52 Rappen die Stunde, ein Typograph – einer der angesehensten Berufe vor der Jahrhundertwende – sogar etwa 62 Rappen. Bei solchen Gehältern konnte sich eine Familie einen gewissen Wohlstand erarbeiten. Dies führte in der Regel dazu, dass sie sich eine neue Wohnung in einem anderen Stadtteil suchte, wo es bessere Ausbildungsmöglichkeiten für den Nachwuchs gab. Im Armenviertel zurück blieben nur die Neuankömmlinge und diejenigen, die es nicht geschafft hatten, die am Rande des Existenzminimums vegetierten und die Hoffnung auf ein besseres Leben schon längst aufgegeben hatten.

Schweiz. 20 Franken 1888 B, Bern. Aus Auktion Fritz Rudolf Künker GmbH & Co. KG 218 (2012) 5414.

Dass eine Frau mitarbeitete, wenn der Lohn ihres Mannes nicht ausreichte, um die Familie zu ernähren, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbstverständlich. Die meisten arbeiteten in der Textilindustrie. Doch gerade diese Branche erlitt zwischen 1886 und 1890 einen Rückgang, so dass viele Frauen wie unsere Protagonistin nicht mehr täglich Arbeit in den Fabriken fanden.

Einen kleinen Lichtblick im düsteren sozialen Umfeld boten die Ansätze zu Hilfe und zu Selbsthilfe, welche vor allem von Seiten der reicheren Zürcher kamen. Ein Beispiel dafür ist der in unserem Hörspiel genannte Konsumverein, der bereits 1851 auf Initiative von J. J. Treichler und Karl Bürkli gegründet worden war. Der Konsumverein organisierte den Ankauf von Lebensmitteln im großen Stil und gab sie zu einem günstigeren Preis an seine Mitglieder ab als diese bei einem privaten Händler hätten zahlen müssen.

Eine andere typische Erscheinung dieser Jahrzehnte sind die unzähligen Wohltätigkeitsveranstaltungen, in denen von den „Reichen“ für die „Armen“ gesammelt wurde. Der von unserem Geschäftsmann erwähnte Wohltätigkeitsbazar hat tatsächlich stattgefunden. Solche Großveranstaltungen ermöglichten es ihren Besuchern, in einer angenehmen und standesgemäßen Umgebung das Gefühl zu bekommen, etwas Gutes zu tun, ohne sich mit dem eigentlichen Problem, der Armut, auseinandersetzen zu müssen.

Quaibrücke um 1890. Quelle: Wikipedia.

Und dabei wären wir auf der „anderen Seite“ unseres Jahres 1887 angekommen, bei Felix Keller und dem zweiten Dialog. Er verkörpert den Typ des erfolgreichen Unternehmers, der sämtliche Vorteile des nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell blühenden Zürich genießt. Die so genannte zweite industrielle Revolution, während der spezialisierte Betriebe in der Maschinen- und Elektroindustrie die traditionellen Industriezweige ersetzten, machte Zürich zu einem Mittelpunkt des schweizerischen Wirtschaftslebens. Dies setzte die Mittel frei für einen Aus- und Umbau der Stadt. In den Jahren nach 1870 wurde u. a. die Fortführung der Bahnhofsstraße bis an den See gebaut, dazu das neue Stadthausquartier. 1884 folgte die Quaibrücke und 1887 die Quaianlagen, auf deren Einweihungsfeier am 2. Juli 1887 unser Felix Keller Bezug nimmt.

All diese Bauten und die einmalige zentrale Lage Zürichs im modernen Eisenbahnnetz machten Zürich zu einem Zentrum des Tourismus, das mit modernsten Hotels die Besucher anlockte. 21.490 Besucher blieben allein im August des Jahres 1887 durchschnittlich 2 1/2 Nächte! Anzusehen gab es genug. Die Tipps, die unser Zürcher Unternehmer im Hörspiel dem Journalisten gibt, sind alle einem kleinen Touristenführer entnommen, den ein bildungshungriger Besucher im Jahr 1887 für 25 Rappen erwerben konnte.

Das Hotel Baur au Lac, 1910. Quelle: Wikipedia.

Übrigens sind auch die Preise für die Speisen authentisch, welche unsere Protagonisten im Hotel Baur au Lac eingenommen haben. Allerdings stammen die Angaben leider nicht aus dem Jahr 1887. Für dieses Jahr fehlen selbst im firmeneigenen Archiv jegliche Rechnungen.

Beim nächsten Mal geht es um eine Revolution – im Schweizer Lebensmittelhandel …

Alle anderen Folgen der Serie finden Sie hier.

Die Texte und Zeichnungen entstammen der Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung im MoneyMuseum Zürich. Vertonte Auszüge sind als Video hier erhältlich.

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