Die wunderschöne Architekturdarstellung auf der Rückseite einer Münze zeigt uns bis ins Detail aus der Vogelperspektive, wie wir uns das antike Bergheiligtum von Neapolis in Samaria vorstellen müssen. Dieses war, ebenso wie die Stadt relativ jungen Datums. Neapolis wurde von Vespasian als FLAVIA NEAPOLIS SAMAREIAS (= Flavische Neustadt, die in Samaria liegt) wohl im Jahre 72/73 nach dem jüdischen Krieg gegründet. Es ersetzte das alte Sichem, das bereits seit mehr als 200 Jahren verfallen war, als Garnison zum Eingang zu der Passhöhe zwischen den Bergen Ebel und Gerizim. Diese verkehrswichtige Lage sorgte dafür, dass die Stadt wuchs und gedieh, so dass sie als eine der größten Städte in ganz Palästina bezeichnet wurde.
Neapolis (Samaria), AE, Macrinus, 217-218. Berg Gerizim, auf dem Gipfel Tempelanlage, zu der eine steile Treppe empor führt, die von kleinen Schreinen gesäumt ist, an der r. Seite führt ein Pfad zu einem Altar empor; unten Kolonnade. BMC 59, 90. Rosenberger, CCOP III, 10, 32. Aus Auktion Münzen & Medaillen Deutschland 32 (2010), Nr. 365.
Das auf der Münze dargestellte Heiligtum auf dem nahe Neapolis gelegenen Berg Gerizim ist noch jünger als die Stadt. Erst Hadrian hatte es errichtet. Als Standort wählte er einen alten geheiligten Platz, der schon im Alten Testament als Berg des Segens eine Rolle spielte. Deut. 27, 2 können wir lesen, wie Joshua die Israeliten teils auf den Berg Gerizim befahl, um das Volk zu segnen, teils auf den Berg Ebal um es zu verfluchen. An derselben Stelle lag das Hauptheiligtum der Samaritaner; noch Anfang des 20. Jahrhunderts schlachteten dort die Familienväter Jahr für Jahr ihr Pessachlamm.
Dieses ursprüngliche Heiligtum wurde von Antiochos IV., der die Juden durch seine rücksichtslose Hellenisierungspolitik ohne Rücksicht auf den jüdischen Glauben in einen Aufstand trieb, 168 v. Chr. dem Zeus Xenios oder Hellenios geweiht. Darauf griff Hadrian zurück. Auch er versuchte, die Provinz von Judäa durch eine Hellenisierung der jüdischen Kultur enger an das römische Reich zu binden. Dazu schuf er zu Ehren des Zeus einen großen Tempelkomplex auf dem Berg Gerizim. Zum Zeichen, dass dieses Heiligtum den zerstörten Tempel in Jerusalem als kultisches Zentrum ablösen sollte, wurden die Tore des alten Tempels herbeigebracht, um den neuen zu schmücken. Der Beiname des hier verehrten Zeus, Hypsistos (= der Höchste), weist auf Hadrians wohlgemeinten Versuch hier die hellenistisch-römische Ideen mit dem Monotheismus der Samaritaner zu verschmelzen.
Das samaritanische Heiligtum auf dem Berg Gerizim. Postkarte von 1913. Foto: George H. Judd / Wikipedia.
Überreste von der einst prachtvollen Anlage auf dem Berg des Segens gibt es nur sehr wenige. So benutzen die Archäologen gerne die Informationen, die ihnen einzelne Münzbilder über das Aussehen des Heiligtums liefern. Am Fuße des Berges sehen wir einen großartig angelegten Eingangsbereich mit Kolonnaden und einem Zeremonialtor. Vor hier aus stieg der Pilger über eine großangelegte Treppenflucht hinauf zum eigentlichen Heiligtum, wie auch wir das heute noch von einer ganzen Reihe von heiligen Bergen mit Wallfahrtskirchen kennen. Entlang dem Weg lagen kleine Gebäude, die auf der Münze dargestellt sind, als hätte ein Kind versucht, kleine Häuschen zu zeichnen: Zwei auf der r. Seite, eines auf der linken.
Diese Gebäude hatten wohl dieselbe Funktion wie die Schatzhäuser, die wir bei einem Besuch in Delphi an der heiligen Straße wiederfinden. Sie dürften zur Aufnahme von Opfergaben gedient haben. Der den Weg hinaufsteigenden Pilger sollte beeindruckt werden von der Macht eines Gottes, dem bereits so viele Menschen aus Dankbarkeit geopfert hatten. Ganz oben auf dem Berg sehen wir den eigentlichen Tempel, einen Umgangstempel des üblichen griechisch-römischen Typs. Rechts vom eigentlichen Hauptheiligtum finden wir eine schmale Linie; damit ist ein weiterer Weg gemeint, der vom Haupteingang zu einem Altar vom orientalischen Typus führt.
Natürlich haben wir mit dieser Münze keine einer Photographie vergleichbare Abbildung. Die Proportionen stimmen nicht. So ist der eigentliche Tempel fast genauso groß wie der gesamte Berg. Auch die Treppen sind nicht naturalistisch wiedergegeben: Der Stempelschneider hat nur jeden Treppenabsatz durch einen Einschnitt markiert. Trotzdem können wir durch diese Münze einen Eindruck von der Größe und Bedeutung des Heiligtums erhalten. Die Bewohner von Neapolis waren stolz, dass sich in ihrer Stadt dieses kultische Zentrum befand, und so stellten sie es dar mit den Punkten, die allen Besuchern der Stadt in Erinnerung geblieben waren, dem monumentalen Eingang, dem herrlichen Wallfahrtsweg zum Tempel hinauf, dem eindrucksvollen Tempel und dem nur durch einen versteckten Pfad erreichbaren Altar.