Von „greller Verschiedenheit“ zum Einheitensystem

Auf einem Markt im 15. Jahrhundert: Es gab keine einheitlichen Maße, sondern einen Wirrwarr an verschiedenen Messgrössen. Illustration einer Marktszene in einer Handschrift von Nikolaus von Oresme, um 1453. Bibliothèque nationale de France
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In Stein gehauene Hohlmaße für Getreide aus dem 15. oder 16. Jahrhundert auf dem Marktplatz von Greyerz. Foto: Patrimoine Gruyères.

Zählen und messen ist eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Heute regelt das internationale Einheitensystem SI (für Système international d’unités) weltweit, wie das zu geschehen hat. So einfach wie heute war es aber lange nicht. Gerade auch in der Schweiz gab es lange einen unübersichtlichen Wirrwarr an Längen-, Kubik-, Flächen-, Flüssigkeits- und Gewichtsmaßen.

Auf lokale Verhältnisse bezogen

Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse und Salz etwa wurden nicht gewogen, sondern ausgemessen. Als Messinstrumente dienten Hohlmaße, wobei je nach Beschaffenheit des Getreides unterschiedliche Maße verwendet wurden: Solche für die „glatte“, entspelzte Frucht und solche für „raues“, unentspelztes Korn. Beeindruckend war die Vielfalt auch bei den Maßen für Flüssigkeiten. Hier gab es neben regional unterschiedlichen Einheiten wie etwa Saum, Eimer, char, pinta auch spezielle Maße je nach Flüssigkeit: So wurde in der Regel Wein mit einem anderen Maß gemessen als Milch, Öl, Most oder Branntwein.

Ein Ochsengespann vor Pflug bei der Feldarbeit unter einem blühenden Kirschbaum, um 1915. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum.

Wie sehr Maßeinheiten auf das zu messende Objekt und lokale Verhältnisse bezogen waren, lässt sich am Flächenmaß Juchart veranschaulichen. Das Wort kommt vom lateinischen „iugum“, also Joch. Und es bezeichnete ursprünglich jene Fläche eines Stücks Land, das mit zwei Ochsen unter einem Joch an einem Tag gepflügt werden konnte. Entsprechend war ein Juchart in der Kornbauzone des Mittellandes viel grösser als in Hügel- oder Bergregionen. Auch für den Rebbau gab es Maße, die auf der Schätzung von geleisteter Arbeit innerhalb einer bestimmten Zeitdauer beruhten, z.B. Mannschnitz oder Ouvrier. Und in der Alpwirtschaft gab es neben solchen Flächen- auch ähnlich konzipierte Ertragsmaße: Die Ertragsfähigkeit einer Weide wurde nach der Zahl der Kühe geschätzt, die dort gesömmert werden konnten.

Verschiedene Bieler Frucht- und Getreidemaße, um 1570. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum.

Maße mit verschiedenen Längen

Die Maßeinheiten variierten also von Ort zu Ort und von Einsatzzweck zu Einsatzzweck. Doch damit nicht genug: Unter der gleichen Bezeichnung wurden je nach Region verschiedene Mengen erfasst. Bei der Elle war das so. Und auch beim Längenmaß Klafter. Dieses umfasste vielerorts 10 Schuh. Es gab aber auch das kleine Klafter zu 6 Schuh. Der Schuh wiederum war unterteilt in 12 Zoll, der Zoll in zwölf Linien. Der Freiburger Schuh zum Beispiel hatte jedoch 4 Linien mehr als der Bernschuh. Das Längenmaß Stab wiederum hatte alleine auf dem Gebiet des Kantons Freiburg neun verschiedene Längen. Der Statistiker, Geograf und Historiker Franz Kuenlin, Mitglied gelehrter Gesellschaften wie der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft oder der Académie Royale de Lyon, schrieb dazu 1834 in seinem Werk „Gemälde der Schweiz“: „Jedoch ist zu bemerken, dass die verschiedenen Masse nicht überall gleichförmig sind.“ Und: „Wie sehr es noth thut, dafür zu sorgen, dass diese oft grelle Verschiedenheit je eher je lieber verschwinde.“

Die Revolution aus Frankreich

In Frankreich wurde diese Verschiedenheit 1791 abgeschafft. Die Nationalversammlung verabschiedete damals im Zuge der Revolution ein Maß-System, das mit dem alten Herrschaftssystem auch die alten königlichen Maße und Gewichte über Bord warf. In der Schweiz kam die Vereinheitlichung zögerlich. 1801 gab es in der nach französischem Vorbild tickenden Helvetischen Republik zwar einen ersten Beschluss für ein „allgemein gleichförmiges System von Maßen und Gewichten in Helvetien“. Doch das entsprechende Gesetz konnte keine Wirkung entfalten, weil die Helvetische Republik schon 1803 wieder aufgelöst wurde. Immerhin gab es 1835 dann aber ein Konkordat von zwölf Kantonen über eine „gemeinsame schweizerische Maß- und Gewichtsordnung“, das diese bis 1839 umsetzten. Und in der Bundesverfassung von 1848 wurde festgehalten: „Der Bund wird auf die Grundlagen des bestehenden eidgenössischen Konkordates für die ganze Eidgenossenschaft gleiches Maß und Gewicht einführen.“ Das blieb allerdings vorerst Wunschdenken, weil die Westschweiz, die Südschweiz und der Kanton Uri auf ihren Systemen beharrten. Das Nebeneinander verschiedener Systeme dauerte also fort. Erst 1875, als die Schweiz der Meterkonvention beitrat, dem Vorläufer des SI, kam die gesamtschweizerische Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten zustande.

An der Tour de l’Ile in Genf zeigten bis 1886 drei Uhren die Zeit an: Pariser Zeit, Genfer Zeit und Berner Zeit. Foto von Auguste Louis Garcin. Foto: Bibliothèque de Genève.

Zuletzt auch die Zeit

Ausgespart bei der Vereinheitlichung von 1848 bzw. 1875 blieb die Zeit. Es galten also weiter die jeweiligen Lokalzeiten. Jene von St. Gallen zum Beispiel unterschied sich von jener in Genf um etwa 14 Minuten. Für das Telegrafen- und für das Eisenbahnwesen, das sich in jener Zeit rasch entwickelte, war das eine Herausforderung, besser gesagt: Für die Nutzerinnen und Nutzer dieser neuen Möglichkeiten. Wer mit der Bahn ab oder über Genf reiste, musste beispielweise stets drei Zeiten im Blick haben: Die Genfer Lokalzeit, die Berner Zeit, nach denen sich die die Schweizer Züge richteten, und die Pariser Zeit, nach denen die französischen Züge verkehrten. An der zentralen Tour de l’Ile in Genf gab es deshalb, für alle gut sichtbar, gleich drei Uhren: Pariser Zeit, Genfer Zeit, Berner Zeit. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen zunächst die USA, Großbritannien sowie weitere Länder koordinierte Zeitzonen an, die auf dem Nullmeridian in Greenwich basieren. Und die Nachbarstaaten der Schweiz stellten am 1. April 1892 auf die gemeinsame mitteleuropäische Zeit um. In der Folge äußert der Bundesrat in einem Bericht an das Parlament vom 17. Juni des gleichen Jahres die Ansicht, „dass die Verhältnisse es nicht gestatten, aus der Schweiz eine Insel zu machen im wogenden Meere des Verkehrs“. Seit 1894 richtet sich auch die Schweiz nach einem einheitlichen Zeitsystem, seit 1978 gilt das internationale Einheitensystem für alle Maße und Gewichte.

 

Guido Balmer ist Kommunikationsbeauftragter der Direktion für Raumentwicklung, Infrastruktur, Mobilität und Umwelt des Kantons Freiburg und freischaffender Kommunikationsprofi. Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht am 8. April 2022 auf der Website des Schweizerischen Nationalmuseums.

Wir danken dem Schweizer Nationalmuseum für die Erlaubnis, den Artikel nachzupublizieren.

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