Blühendes Sizilien Teil 5

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von Ursula Kampmann

19. Juni 2014 – Wie kleinräumig Sizilien eigentlich ist, wird einem erst so richtig klar, wenn man sich um das Mikroklima zu kümmern beginnt. Im Sommer kann man das natürlich nicht. Da ist es überall brütend heiß. Im Frühling ist das anders. Da hat man in einem Tal herrlichsten Sonnenschein, während die Gegend ein paar Kilometer weiter vom schrecklichsten Dauerregen gepaart mit unangenehmem Wind heimgesucht wird. Normalerweise muss man dann nur eine kurze Zeit warten, bis sich das Wetter wieder ändert…

Samstag, 19. April 2014
Für den Samstag hatten wir Selinus auf dem Programm. Selinus, die Stadt, die zur großen Gegenspielerin von Segesta wurde. Wir wussten, es würde ein anstrengender Tag werden, denn die Ausgrabungen von Selinus umfassen mit ihren 40 Hektar ein riesiges Gebiet.

Das Grabungsgelände von Selinus lässt sich nicht mit einem einzigen Blick erfassen. Foto: KW.

30.000 Einwohner – dazu ein Heer von Sklaven – sollen die Stadt während ihrer Blütezeit im 5. Jahrhundert v. Chr. bewohnt haben. Angelegt wurde sie von Menschen, die die Gegend gut kannten. Die griechische Kolonie Megara Hyblaea, ca. 20 Kilometer nordwestlich von Syrakus, musste menschlichen Nachschub aus der Heimatstadt Megara irgendwo sinnvoll ansiedeln. Man wählte einen dafür hervorragend geeigneten Ort direkt am Meer zwischen den Einmündungen von zwei Flüssen, dem Selinus und dem Hypsas.

Selinus. Didrachme, 480-466. Aus Auktion Gorny & Mosch 195 (2011), 55.

Wann genau Selinus besiedelt wurde, ist nicht bekannt, aber es muss irgendwann in der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts geschehen sein.

Apium graveolens, aus: O. W. Thomé, Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gera (1885). Quelle: Wikipedia.

Seinen Namen trägt Selinus nach dem griechischen Wort für Eppich. Und da Sie sicher nicht sofort den Grimm konsultieren wollen, welche Pflanze dieses mittelhochdeutsche Wort bezeichnet, verraten wir es Ihnen. Es ist nicht, wie die englische Wikipedia zu wissen glaubt, die wilde Petersilie (auch wenn ihre Blätter ähnlich aussehen), …

Wilder Sellerie im Botanischen Garten von Frankfurt. Foto: Karl-Heinz Wellmann, CC-BY-SA-3.0.

… sondern Apium graveolens, der echte – oder wie das lateinische Wort sagt, stark riechende – Sellerie. Er wuchs besonders gerne dort, wo es feuchte und sumpfige Böden gab, was durchaus auch als Hinweis darauf zu verstehen ist, mit welchen Problemen die ersten Siedler von Selinus zu kämpfen hatten. Dazu braucht diese Pflanze unbedingt einen salzhaltigen Boden, was eben nur in der Nähe des Meeres gegeben war.

Selinus. Tetradrachme, 466-450. Artemis und Apollon in Biga. Flussgott über Altar opfernd. Aus Auktion Gorny & Mosch 219 (2014), 53.

Natürlich wurde Selinus nicht im luftleeren Raum gegründet. Es gab Nachbarn. Und die waren nicht alle erfreut. Selinus war der am westlichsten gelegene Vorposten der griechischen Kultur in Sizilien. Es befand sich in der Nähe der Handelsstützpunkte der Karthager. Doch mit denen gab es keinen Ärger. Die Elymer in Segesta dagegen sahen ziemlich ungern, wie schnell sich das expandierende Selinus ihrem Territorium näherte.

Selinus. Stater, um 450. Jugendlicher Herakles bändigt den kretischen Stier. Rv. Flussgott Hypsas opfernd. Aus Auktion Gorny & Mosch 125 (2003), 53.

Die Kolonisten von Selinus scheinen nämlich nicht viel von der Tugend der Selbstbeschränkung gehalten zu haben. Man wollte wachsen, und dafür brauchte es zusätzliche Felder, um genug Getreide zu produzieren. Mit den alten Besitzern, den Elymern, gab es mehr als einen Krieg. Die Neuankömmlinge konnten sich wesentlich besser behaupten als die Alteingesessenen. Und so wuchs die neue Hafenstadt. Ihre geographische Lage war ideal für den Handel. Und so erlebte Selinus im 5. Jahrhundert eine Blütezeit.

Stadtplan von Selinus (1910) Quelle: Universität Heidelberg / Wikipedia.

Ende des 5. Jahrhunderts gab es – mal wieder – einen Streit mit Segesta. Daraufhin blockierte Selinus den Segestanern den Weg zur Küste. Man fühlte sich stark, da man erwartete, dass die Griechen zusammenhalten würden. Syrakus unterstützte Selinus. Segesta stand vor dem wirtschaftlichen Aus und musste einen anderen Verbündeten finden. Auf Sizilien gab es niemanden, der den Syrakusanern gewachsen schien. So kam es zum Bündnis zwischen Segesta und Athen.

Selinus. Hemidrachme, 415-409. Aus Auktion Gorny & Mosch 211 (2013), 75.

Der athenische Feldherr Nikias hatte vorgeschlagen, gleich Selinus anzugreifen. Aber das war für das athenische Selbstbewusstsein zu unbedeutend. Unter Syrakus machte man es nicht. Und diese Überheblichkeit führte 413 zu einem der größten Desaster in der athenischen Geschichte. Selinus triumphierte. Segesta war unterlegen. Zugeständnisse von seiner Seite zogen nur neue Forderungen nach sich. Bis die bedrängten Segestaner so weit waren, dass sie sich an die Karthager um Hilfe wandten.

Selinus. Bronze-Trias, 435-415. Aus Auktion Künker 133 (2007), 7236.

Die schickten nach kurzem Zögern eine kleine Streitmacht, mit der es Segesta gelang, die Bewohner von Selinus in der Schlacht zu schlagen. Und die Karthager hatten sich vor Ort davon überzeugt, dass die Griechen auf Sizilien nicht mehr so schlagkräftig waren wir noch 480 v. Chr.

Selinus. Bronze-Hemilitra, 415-409. Aus Auktion Künker 133 (2007), 7237.

Deshalb kam im folgenden Frühling ein großes Heer unter dem Enkel des karthagischen Generals, der damals bei der Schlacht von Himera ums Leben gekommen war. Es landete in Lilybaion und marschierte direkt nach Selinus, das völlig unvorbereitet war. Die versprochene Hilfe aus Syrakus, Gela und Akragas ließ auf sich warten, und so wurde die Stadt erobert. Die Quellen berichten von 16.000 Toten, 5.000 Gefangenen und 2.600 Soldaten, die sich nach Akragas absetzen konnten.

Karl Briullov. Touristen in Selinus. Quelle: Wikipedia.

Auch wenn die Mauern zerstört wurden, die Überlebenden durften zurückkehren. Es gab sie, aber die Macht der Stadt war zerbrochen. Der Schlusspunkt kam gegen Ende des ersten Punischen Kriegs, als die Karthager alle Bewohner von Selinus nach Lilybaion umsiedelten. Der Geograph Strabo (64/3 v. Chr. – 24 n. Chr.) kannte es nur noch als ausgestorbene Stadt.

Plan des Geländes mit eingezeichnetem Kurs des Bähnleins. Foto: KW.

Ausgestorben ist Selinus heute nicht. Im Gegenteil. Es gibt einen großen Parkplatz mit viel Platz für Busse, etliche Andenkenläden und eine große Bar. Die meisten Touristen schauen sich nur die Tempel an. Die wenigsten wenden das Geld auf, die gesamte Tour mit der elektrischen Bahn zu buchen, die den Osthügel, die Akropolis und den nördlichen Teil des Geländes erschließt.

Ein Blick auf den so genannten Tempel E. Foto: KW.

Die meiste Aufmerksamkeit erhält der restaurierte Tempel E, der wegen der Inschrift auf einer Votivstele als Tempel der Hera gilt.

Metope von Tempel E mit Darstellung von Zeus und Hera. Foto: G. Dall’Orto / Wikipedia. CC BY-SA 2.5.

Die Metopen dieses und aller anderen Tempel liegen im bedeutenden archäologischen Museum von Palermo, das leider wegen einer jetzt schon mehrere Jahre dauernden Renovierungsmaßnahme geschlossen ist. Wie lange dies noch dauern wird? Wer weiß. Die Internet-Seite gibt dazu keine Auskunft. Stattdessen erfährt man, dass das Team des Museums 31 namentlich genannte Direktoren, Wissenschaftler und Verwaltungsangestellte umfasst. Beeindruckend!

Ein Blick ins Innere des Tempels E. Foto: KW.

Fast genauso beeindruckend ist der Blick in das Innere von Tempel E, das bestens rekonstruiert, die Strukturen des Adyton sichtbar macht. Was ein Adyton ist, also vielleicht etwas, das man als eine Art kultischen Schuppen bezeichnen könnte, weil hier Kultbild, Weihegaben und rituelle Geräte aufbewahrt wurden, ehe man sie wieder für das Ritual auf dem Altar vor dem Tempel brauchte.

Tempel F. Foto: KW.

Schon wesentlich weniger Interesse fand Tempel F, der wie im Reiseführer zu lesen, der älteste und kleinste dieser Gruppe von Tempeln ist. Vielleicht war er Athena oder Dionysos geweiht. Wie auch immer, allmählich begann uns die riesige schwarze Wolke, die sich da von dieser Seite näherte, fast mehr zu interessieren als der Tempel.

Tempel G. Foto: KW.

Tempel G gehörte einst zu den größten Tempeln der ganzen griechischen Welt. Heute ist er nur noch ein Trümmerhaufen, der die vielen Touristen zum Klettern animiert. Man denkt darüber nach, ob er dem Apollon gewidmet war oder doch eher dem Zeus.

Architekturfragmente mit originaler Bemalung. Foto: KW.

Heldenmütig versuchten wir den inzwischen strömenden Regen zu übersehen, der mit den kalten Windböen ein unangenehmes Zweigespann bildete. Während wir durch das Gelände stapften, wurde es sichtlich leerer. Nicht unverständlich. Nicht einmal bei uns riefen die farbigen Architekturfragmente, die auf einem großen Haufen vor dem Grabungshaus gestapelt waren, noch echte Begeisterung hervor. Wir beschlossen, erst einmal in der Bar außerhalb des Grabungsgeländes zu warten. Wie alle anderen auch. Der Barbesitzer strahlte und verkaufte heißen Espresso, heiße Schokolade und heißen Tee. Wir warteten eine halbe Stunde, eine Stunde, der Regen ließ nicht nach. Die ersten gaben auf, und der Parkplatz begann sich zu leeren.

Wir hielten ein bisschen länger durch als die meisten, aber als der Regen vom Strömen ins Schütten überging, kapitulierten auch wir. Wir setzten uns ins Auto, fuhren alibimäßig außen herum noch einmal ums Grabungsgelände und dann in Richtung Heimat. Es dauerte nur ein paar Kilometer, und der ganze Spuk war vorbei. Die Sonne schien, aber über der Grabung von Selinus hing immer noch die schwarze Regenwolke.

Wir nutzten die Gelegenheit, um in Castelvetrano einkaufen zu gehen. Was gar nicht so leicht war. Jedenfalls fuhren wir erst einmal durch die ganze Stadt, ehe wir einen offenen Supermarkt entdeckten. Dafür wurden wir dort an der Wursttheke in schönstem Bayrisch bedient. Der Metzger hatte mehrere Jahre seiner Jugend in Bayern gearbeitet. Er freute sich riesig, sein Deutsch wieder einmal benutzen zu können. Und eine leichte Wehmut war zu hören, als er meinte, man habe damals in München schon mehr unternehmen können als in Castelvetrano.

Wir kauften ihm unser Mittagessen ab und verspeisten es zurückgekehrt in Balata di Baida im strahlenden Glanz der Sonne. Und damit sind wir wieder bei der Sache mit dem Mikroklima. Im Frühjahr und im Herbst scheint es keinen zuverlässigen Wetterbericht für die ganze Insel zu geben. Jedes Tal produziert sein eigenes Wetter. Und manchmal ist der Regen eben genau da, wo man selbst hin will.

In der nächsten Folge von „Blühendes Sizilien“ fahren wir auf die Insel Motya, um dort eine karthagische Stadtanlage zu besichtigen. Dort gibt es sogar einen Tophet, wo die Karthager einst Kinderopfer darbrachten.

Sie finden hier alle Teile der Reihe „Blühendes Sizilien“.