von Ursula Kampmann
26. Juni 2014 – Ostersonntag in Sizilien. Das ist der Tag der Familie, an dem sich Opa und Oma, Onkel und Tante, Kind und Kindeskind um den Tisch versammeln, um aufwändig zu speisen. Wir dagegen besuchten die Zeugnisse eines Volkes, von dem viele behaupten, es habe seine erstgeborenen Kinder als Opfer für die Götter geschlachtet. Auf der Insel Motya ist noch heute ein Tofet zu besichtigen, ein Ort, an dem solche Kleinkinder beigesetzt wurden.
Ostersonntag, 20. April 2014
Heute hatten wir einen Ausflug ins Punische vor, und zwar nach Motya. Um nicht ewig die gleiche Straße zu fahren, hatte ich die wesentlich kürzere Alternativroute über die Berge gewählt. Alles nur gelbe Straßen, weil ich den weißen Straßen Siziliens nicht traute. Man kann sich nämlich hierzulande gar nicht mehr vorstellen, wie schlecht Straßen sein können.
Sizilianische Straße, im Straßenatlas gelb eingezeichnet. Foto: KW.
Die heutige Straße schoss den Vogel ab, wobei der Begriff „Straße“ ziemlich hoch gegriffen ist. Teilweise war wegen der Schlaglöcher eine Höchstgeschwindigkeit von 10 Stundenkilometern vorgeschrieben. Unser Weg glich einer Buckelpiste mit knapp meterhohen Abstürzen. Vom Rand drängten sich Blumen und Kräuter in die Straßenmitte und rissen das bisschen Asphalt, das es noch gab, weiter auf.
Wir kamen vorbei an einsamen Dörfern, in denen streng blickende Männer in dunklen Anzügen (Ostersonntag!) auf einer Bank am Straßenrand saßen und jedes vorbeifahrende Auto kommentierten. Kolonnen von toupierten Damen wanderten mit kargen Blumensträußen in Richtung Friedhof und führten an der Hand aufgeputzte Kinder und Enkel. Man glaubte durch die Szenerie eines Mafiafilms zu fahren.
Wir waren froh, als wir es ohne Achsbruch zur Autobahn geschafft hatten. Wir hatten auch höchstens doppelt so lange gebraucht wie auf unserer normalen Strecke. Wie auch immer. wir fanden dann doch ohne Probleme das Kai, von dem aus man sich nach Motya einschiffen kann.
Die Salinen von Trapani. Foto: KW.
Motya liegt nämlich komplett auf einer Insel. Anscheinend liebten es die Karthager, ihre Städte durch einen kleinen Abstand vom Festland zu sichern. Schon die Lage des Stegs, von dem die Motorboote starten, ist mehr als idyllisch. Er befindet sich nämlich mitten in den Salinen von Trapani, wo heute noch Meersalz abgebaut wird.
Das hiesige Klima mit seiner niedrigen Luftfeuchtigkeit und der starken Sonneneinstrahlung ist ideal für die Salzgewinnung.
Die Salzhaufen werden mit Dachziegeln abgedeckt. Foto: KW.
Dafür war es zunächst nötig, das Salzwasser aus dem Meer in eines der seichten Becken zu befördern. Man bediente sich dafür der archimedischen Schraube, die von einem Windrad angetrieben wurde. Sobald die Salzkonzentration genügend angestiegen war, wurde das Wasser in ein flacheres Becken geleitet. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals, bis zum Schluss das reine Salz übrig blieb. 30 bis 50 Tage dauerte es, aus dem Salzwasser das reine Meersalz zu gewinnen. Die Monate, in denen man hier arbeiten konnte, waren übrigens begrenzt auf die Periode zwischen Juni und September, in der es sicher nicht regnete.
Ein Blick auf die Insel Motya. Foto: KW.
Von den Salinen aus fährt alle halben Stunden ein Boot auf die Insel Motya, die seit dem 11. Jahrhundert unter dem Namen San Pantaleo bekannt ist. Damals wurde sie von den Basilianern (nicht Brasilianern!) besiedelt. Dieser interessante Orden war vor allem im ehemals byzantinischen Süden Italiens zu hause und unterstellte griechisch-orthodoxe Klöster einer katholischen Organisationsstruktur.
Foto eines Eselskarren auf der Wasserstraße im Museum Whittaker. Foto des Fotos: KW.
Hatte man früher auf einem überfluteten Damm mit nur leicht nassen Füßen zur Insel kommen können, ist heute das Schiff unumgänglich.
Motya. Didrachme, um 425. Aus Auktion Künker 97 (2005), 241.
Motya wurde wahrscheinlich bereits im 8. Jh. v. Chr. gegründet, so ungefähr ein Jahrhundert nach Karthago. Die Siedler kamen nicht von dort, sondern von der phönizischen Küste, um auf Sizilien eine Handelskolonie einzurichten.
Motya. Tetradrachme, 415-397. Aus Auktion Gorny & Mosch 203 (2012), 49.
Man hat den Namen Motya von dem karthagischen Begriff Mtw ableiten wollen, der ein Zentrum für das Spinnen von Wolle bezeichnet. Damit wäre klar, was die Phönizier exportierten.
Motya. Onkia, 413-397. Aus Auktion Gorny & Mosch 196 (2011), 1192.
Während die Griechen eine Kolonie nach der anderen gründeten, konzentrierten sich die Karthager immer mehr auf Solus, heute Solanto, Panormos, heute Palermo, und eben auf Motya.
Die Festung Motya. Quelle: Selinous, Aldo Ferruggia / Wikipedia, CC BY-SA 3.0.
Das entwickelte sich zu einer wichtigen Festung, über die wir trotzdem nicht allzu viel wissen, jedenfalls nicht vor dem Zeitpunkt, als Dionysios I. von Syrakus beschloss, Motya zu erobern. Der Grieche musste alle Errungenschaften der griechischen Belagerungstechnik auffahren, um die Stadt kleinzukriegen. Er soll extra zu diesem Zweck von seinen Ingenieuren eine neue Schusswaffe entwickeln haben lassen, das Katapult.
Als die Stadtmauern gefallen waren, verschanzten sich die Karthager in den Häusern, und so musste die Insel Haus für Haus erobert werden. Männer, Frauen und Kinder, die das Gemetzel überlebten, wurden von den Griechen hingerichtet.
Motya. Bronze, 415-397. Aus Auktion Künker 133 (2007), 7219.
Ein Jahr später, 397, eroberten die Karthager die Insel zurück. Sie besiedelten Motya nicht mehr. Die Überlebenden verließen den Ort des Grauens und kamen nach Lilybaion. Motya war damit aus der Geschichte verschwunden.
Plan der Insel Motya. Foto: KW.
Heute ist die Insel Motya Privatgebiet. Die wesentlichen Ausgrabungen hat nämlich ein Privatmann initiiert, Joseph Whittaker.
Joseph Whittaker, Büste im Zentrum der Insel Motya. Foto: KW.
Der stammte aus einer Familie, die mit dem berühmten Marsala-Wein ein riesiges Vermögen gemacht hatte. Und Whittaker wandelte auf berühmten Spuren. Im Oktober 1875 war Heinrich Schliemann vom italienischen Staat eingeladen worden, die im 19. Jahrhundert weit verbreitete Theorie mit Grabungen zu bestätigen, auf der Insel San Pantaleo solle das antike Motya gelegen haben. Aber Schliemann reiste nach vier Tagen wieder ab. Sein Urteil war vernichtend: „Hier gibt es nichts zu entdecken und keine geschichtlichen Rätsel zu lösen. Ich werde die Ausgrabung nicht fortsetzen. Zu viel Staub und Schmutz hier. … Die Einwohner sprechen nur ihr hiesiges Idiom. Wegen der fortgesetzten Hochzeiten untereinander sind alle Einwohner der Inseln miteinander verwandt. Sie sind mit Sicherheit die schlechtesten Arbeiter, die ich jemals gehabt habe.“
Medaille auf William Henry Smyth. Quelle: Wikipedia.
Für ihre Einladung an Schliemann griffen die italienischen Verantwortlichen auf eine Studie zurück, die einer der Gründungsväter der Royal Numismatic Society verfasst hatte. Der Marineoffizier William Henry Smyth hatte während der Napoleonischen Kriege an der Küste von Sizilien Dienst getan und sich bei dieser Gelegenheit eine Meinung über die Lage von Motya gebildet, und diese auch publiziert.
Joseph Whittaker bewies die Theorie. Er kaufte gleich die ganze Insel und ließ zwischen 1906 und 1927 verschiedene Grabungen durchführen, deren Befunde er 1921 publizierte. Das Ergebnis war eindeutig: Das antike Motya war lokalisiert.
Motya blieb in Whittakers Privatbesitz. Erst seine Tochter vermachte das gesamte Gelände mit allen Funden und Ausgrabungen kurz vor ihrem Tod 1971 dem italienischen Staat, der die Grabung aber immer noch als Stiftung betreibt. Mit anderen Worten auf Motya müssen auch die über 65jährigen zahlen und die, die einen ICOM-Ausweis haben.
Der Ephebe von Motya. Foto: KW.
Aber was man dann auf der Insel zu sehen bekommt, ist das Geld für Überfahrt und Eintritt mehr als wert. Der Rundgang beginnt mit einem Besuch des Museums, dessen Schmuckstück ein 1979 auf der Insel gefundener Kouros von feinster Arbeit ist. Es gilt als große Überraschung, dass auf Sizilien, das an Großplastik eher arm ist, ausgerechnet in einer phönizischen Kolonie eine prachtvolle griechische Statue aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. gefunden wurde. Bemerkenswert ist die Delikatesse, mit der das Gewand gestaltet ist. Man sieht den Körper genau durch den leicht gefältelten, eng anliegenden Stoff.
Ein Blick in den Saal mit den Funden des Tophet. Foto: KW.
Mindestens genauso aufregend sind die Funde vom Tophet. Dieses Wort hängt zusammen mit dem hebräischen Ausdruck für „Passage durchs Feuer“. Dort wurden mehr als 1.000 kleine Votivstelen freigelegt, die Zeugnis ablegen von den Opfern der Einwohner Motyas an ihre Götter. Man hat die vergrabenen Knochenreste analysiert und neben den Tierknochen menschliche Gebeine gefunden, die hauptsächlich von Säuglingen und Kleinkindern stammen. Sie sind Zeugnis für den von griechischen, römischen und jüdischen Autoren überlieferten Brauch, dem Baal das Kostbarste zu geben, das ein Mensch seinem Gott opfern kann: seinen Erstgeborenen. Und man erinnere sich ruhig an die Selbstverständlichkeit, mit der Abraham das Opfer seines Erstgeborenen Isaak in die Wege leitete.
Grabstele vom Tophet. Foto: KW.
Allzu viele Tophets sind nicht erhalten. Sechs eindeutige Beispiele kennt man, davon das eine in Karthago, das andere auf der Insel Sardinien. Und dann gibt es eben noch unseres auf Motya. Wobei die Ehrenretter von Karthago heftig dabei sind, zu bestreiten, dass es Kinderopfer überhaupt gegeben habe. Auch das sei eine bösartige Verleumdung des Fremden, genau wie die Tempelprostitution. Wer kann es entscheiden, wenn die Quellen fehlen? Die Knochen eines geopferten Babys sehen kaum anders aus als die eines begrabenen Kindes. Vielleicht können wir heute nicht mehr verstehen, dass das Leben vor 2.500 Jahren einen anderen Stellenwert hatte. Und vergessen wir nicht, auch die Römer brachten Menschenopfer. Keine Römer und keine Kinder. Aber macht es die Sache wirklich besser, dass sie ein junges Paar von Sklaven töteten?
Wie auch immer, ich gebe zu, ich war ziemlich berührt, als ich in diesem Saal stand. Und natürlich musste ich den Ort im Nordwesten der Insel sehen, wo sich einst das Tophet befunden hatte, übrigens durch die Funde und die Lage deutlich vom Friedhof der Insel getrennt.
Ein Blick in die ursprüngliche Ausstellung der Sammlung Whittaker. Foto: KW.
Ein Zeugnis der vielseitigen Interessen von Whittaker ist ein großer Saal im Museum, der noch mit seinen ursprünglichen Vitrinen ausgestattet ist. Darin liegen nicht nur Funde aus Motya, sondern auch aus Lilybaion. Eines nur hat mich gewundert: Dass im ganzen Museum keine Münzen zu sehen sind. Aber vielleicht gibt es dafür einen logischen Grund. Whittaker war nämlich mit Vittorio Emanuele III. befreundet. Vielleicht hat er dem ja die Fundmünzen aus der Grabung geschenkt…
Kothon. Foto: KW.
Das Gelände selbst ist ziemlich ausgedehnt. Wir besuchten bei drückenden Temperaturen und umsummt von Myriaden aggressiver Mücken als erstes das Highlight des Grabungsgeländes, das neu ausgegrabene Heiligtum am Kothon. Hier hatte man ursprünglich einen typisch phönizischen Binnenhafen angenommen.
Aktueller Plan des Heiligtums vom Kothon. Foto: KW.
Heute glaubt man eher, dass es sich um ein sehr großes Heiligtum handelte, zu dem auch ein umfangreiches Wasserbecken gehörte. Besonders beeindruckend ist die kleine Rundmauer, die das ganze Gelände umgibt.
Das Südtor. Foto: KW.
Direkt davor hat man einen Blick auf das Südtor, ursprünglich nur ein kleiner Teil der Befestigung, die sich um die gesamte Insel zog.
„Cappiddazzu“. Foto: KW.
Noch ein weiteres Heiligtum hat man identifiziert, das den interessanten Namen „Cappiddazzu“ trägt. Nein, das ist nicht Phönizisch, sondern einheimisch. Die Volkssage berichtet, dass sich hier das Gespenst eines Mönchs aus dem alten Basilianer-Kloster herumtrieb, das die bäuerlichen Weinberge vor Dieben schützte.
Die Nekropole von Motya. Foto: KW.
Die Nekropole von Motya war vom Ende des 8. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts in Gebrauch.
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Und das Tophet. Foto: KW.
Das Tophet soll sogar noch länger als Opferplatz benutzt worden sein. Man hat hier Tausende von Votivstelen gefunden, die den Namen des Stifters und eine Formel mit seinem Gelöbnis überliefern. Laborbefunde haben ergeben, dass hier neben und mit den Überresten von Tieren die Knochen von Kleinkindern bestattet wurden (0 bis 6 Jahre), dass es aber auch Kinder und Jugendliche (6 bis 17 Jahre) gab.
Noch viel mehr hätte es zu besichtigen gegeben, aber ich war froh, dass ich überhaupt den Rückweg zur Einschiffungsstelle fand. Und so landeten wir am späten Nachmittag wieder auf dem Festland und nutzten die Tatsache, dass es in unserem Agriturismo heute Abend wegen Ruhetag nichts zu essen geben würde, um in dem kleinen Ausflugsrestaurant zu speisen, das einen erstklassigen Ausblick auf die Salinen bot. Allein die anderen Gesellschaften zu beobachten, die sich hier zu mehreren Generationen anlässlich des Osterfestes am Tisch eingefunden hatten, war den Aufenthalt wert. Da überreichte der Großvater allen am Tisch sitzenden Enkeln säuberlich in ein kleines Kuvert verpackt je einen 50er – bei den sechs Enkeln, die eingeladen waren, machte das 300 Euro, wie wir sofort nachrechneten. Wenn man dazu noch die Rechnung für Speisen und Getränke der ca. 15 Personen addierte, dürfte dieses Osterfest den Opa teuer zu stehen gekommen sein.
Die Küche war sichtlich überfordert, all die Wünsche der Gäste zu erfüllen, vor allem wenn sie dann noch so extravagant waren wie die unsrigen. Dem Restaurant war nämlich der Fisch ausgegangen, und so hatten wir je einen Teller Antipasti bestellt und dann einen Primo, Nudeln bzw. den hier weit verbreiteten Couscous. Das kam nun nicht hintereinander, sondern gleichzeitig. Auf meine freundliche Anregung, dass ich gerne die Antipasta vor den Nudeln esse, meinte der Kellner mit einem entwaffnenden Lächeln, dass heute Ostern sei, und dass es in der Küche eine kleine Confusione gegeben habe. Nun ja, bei den Italienern hatten sie sich diese Form der Confusione dann doch nicht getraut. Allerdings hätte ich auch nicht mit dem dezent gekleideten älteren Pärchen am hinteren Tisch tauschen mögen. Die hatten rund eine Stunde gewartet, bis nach ihrem Primo der Secondo gekommen war.
Und damit hatten wir wieder einmal genug und fuhren zurück in unseren Agriturismo. Es war unsere letzte Nacht im schönen Balata di Baida. Begleiten Sie uns in der nächsten Folge nach Akragas, wo wir mit Tausenden von Touristen durchs Tal der Tempel wandern werden.
Sie finden hier alle Teile der Reihe „Blühendes Sizilien“.