von Ursula Kampmann
7. August 2014 – Wir sind immer noch in Syrakus. Wir verdauen immer noch die tiefe Enttäuschung, das Münzkabinett des Archäologischen Museums nicht sehen zu können, weil der Rentner, der den Schlüssel hütet, den Feiertag im Kreise seiner Familie verbringt und die Schatzkammer nicht aufsperrt. Aber wie auch immer, wir entschlossen uns trotzdem, das restliche Museum zu besuchen. Wir fanden vieles: Interessantes und noch mehr Uninteressantes, Massen von Vitrinen und einen Mangel an Museumsdidaktik, aber immerhin Funde aus den größten Grabungen von Sizilien.
Und natürlich entdeckten wir Neues an diesem Tag, wenn auch nicht im Museum. Wussten Sie, dass Syrakus über Katakomben verfügt?
Freitag, 25. April 2014
Heute war ein italienischer Feiertag, den wir in unsere Berechnungen natürlich nicht einbezogen hatten. Italien feierte seinen Tag der Befreiung, das Anniversario della Liberazione, das sich auf den Sturz des Faschismus bezieht. Das faschistische Italien war ja schon lange vor Deutschland am Zusammenbrechen.
Mussolini und Hitler am 29. September 1938 nach der Schließung des Münchner Abkommens. Bundesarchiv, Bild 146-1969-065-24 / CC-BY-SA.
Nach den Niederlagen in Nordafrika und vor allem am Don im Winter 1942/3 setzte sich eine Reihe von renommierten Politikern für ein Ende der Achse Berlin – Rom ein. Einzelne von Ihnen begannen, mit den Alliierten über einen Frieden zu verhandeln. Denn im Volk gärte es. Lebensmittel waren auf dem Schwarzmarkt nur noch zu Höchstpreisen zu haben, während die Löhne seit Kriegsbeginn eingefroren waren. Wer ausgebombt war (und das waren viele Italiener), hatte nicht einmal ein Dach über dem Kopf, da die italienische Regierung keine Hilfe leistete. So wurde von vielen einfachen Leuten die Landung der Alliierten auf Sizilien am 9./10. Juli 1943 begeistert begrüßt. Und die Gegner Mussolinis in der Parteiführung erhielten die Chance zu handeln.
Der faschistische Großrat wurde einberufen, der seit 1939 nicht mehr getagt hatte. Zu Mussolinis Überraschung sah er sich am 25. Juli 1943 als Oberbefehlshaber der Streitkräfte abgesetzt. Der König übernahm diesen Posten. Und er informierte den Duce, dass er nicht nur dieses Amt antreten, sondern Mussolini auch als Ministerpräsident absetzen werde – was der Rat so übrigens nicht beschlossen hatte. Die Menschen feierten – darunter übrigens auch zahlreiche Deutsche, die fälschlicherweise annahmen, Hitler selbst sei gestürzt.
Mussolini wird in Gran Sasso von deutschen Fallschirmjägern befreit. Bundesarchiv, Bild 101I-567-1503C-13 / Toni Schneiders / CC-BY-SA.
Sie alle kamen wieder in die Realität zurück, als ein deutsches Fallschirmjägerkommando Mussolini aus der Gefangenschaft befreite und die Deutschen in Norditalien einmarschierten. Doch das Ende des Faschismus war abzusehen. In der so genannten Republik von Salò herrschte Mussolini nur noch über Norditalien. Dort marschierten die Alliierten im April 1945 ein. Der Duce floh in der Nacht des 25. Aprils. Er wurde zwei Tage später auf der Flucht ergriffen und am 28. April hingerichtet.
Was danach mit seinem Leichnam geschah, ist typisch für die ambivalente Haltung Italiens zu diesem Teil seiner Vergangenheit. Die Amerikaner bestatteten Mussolini anonym auf einem Militärfriedhof. Dort buddelten ihn ein Jahr später italienische Faschisten wieder aus. Mit Hilfe einiger Kirchenvertreter versteckten sie ihn jahrelang in diversen Kirchen und Klöstern.
Heute liegt Mussolini in seiner Familiengruft, die sich zu einer Art Pilgerstätte für Neofaschisten entwickelt hat. Dies wurde möglich, weil sich Adone Zoli, bekennender Antifaschist und christdemokratischer Ministerpräsident vom 19. Mai 1957 bis zum 19. Juni 1958 die kurzfristige Unterstützung der neofaschistischen Partei MSI für seine Regierung damit erkaufte, dass er ein Begräbnis in der Familiengruft von Predappio duldete.
Aber zurück zum eigentlichen Thema, zum Anniversario della Liberazione. Es gibt dieses Fest seit 1946, und die Italiener nutzen es als zusätzlichen freien Tag. Eine spezielle Veranstaltung haben wir nicht bemerkt. Die Straßen waren halt etwas voller, weil Ausflügler das lange Wochenende genossen.
Ein Blick ins Museum. Foto: KW.
Das Museum war dagegen genauso leer wie am Tag vorher.
Holzstatuetten aus Palma di Montechiaro. Foto: KW.
Wir entdeckten einige spezielle Funde, wobei man schon über ziemlich viel archäologisches Wissen verfügen musste, um aus der endlosen Masse von schlecht beschrifteten Objekten in den unzähligen Vitrinen die wirklich guten Stücke herauszufiltern. Bei diesen drei kleinen archaischen Statuetten zum Beispiel handelt es sich nicht um gewöhnliche Kultobjekte aus Ton. Ihr Material, Holz, macht die in Palma di Montechiaro gefunden Göttinnen so selten.
Terracotta-Statue um 600 aus Madonna del Piano. Foto: KW.
Marmor sucht man eher vergebens in Syrakus, stattdessen begeistern die archaischen Terracotta-Statuen, wie sie wohl einst auch das frührepublikanische Rom geschmückt haben dürften.
Statue des Priapos, zweite Hälfte des 3. Jh. v. Chr. Foto: KW.
Im ersten Stock entdeckt man dann ein bisschen Großplastik, zumeist aus dem heimischen Kalkstein. Ein gutes Beispiel ist dieser hellenistische Priapos, eine der frühesten Statuen, die uns von ihm erhalten geblieben sind. Er besaß, wie uns der Syrakusaner Theokrit überliefert, in Syrakus einen eigenen Kult als Begleiter des Hirtengottes Pan.
Römische Kopie aus dem 2. Jh. n. Chr. einer Venus Pudica aus dem 2. Jh. v. Chr. Foto: KW.
Aus Marmor ist dagegen die Venus Landolina. Sie greift den Typ der verschämt ihre Nacktheit verbergenden Aphrodite auf, wie sie Praxiteles in seiner Aphrodite von Knidos gestaltet hat. Guy de Maupassant hat dieses Kunstwerk bei seinem Besuch in Sizilien im Jahre 1885 ebenfalls begutachtet. Und der französische Frauenkenner hielt sie für das Urbild der verführerischen Frau: „Das ist die Frau, so wie sie ist, wie man sie liebt, wie man sie begehrt, wie man sie umarmen möchte.“ Dass dieser Frau der Kopf fehlt, störte den Poeten nicht. Anscheinend hielt er den für nebensächlich, was Verführung und Frauen anbelangt.
Nerva. Foto: KW.
Ein paar Köpfe von Kaiserinnen und Kaisern, wie hier den Nerva mit den abstehenden Ohren, …
Kleine Grablege aus Blei. Foto: KW.
… einige interessante Grabfunde wie diese Bleikiste für Gebeine …
Formkeramik. Foto: KW.
… und diese kitschigen Statuetten, alle aus derselben Form, waren im ersten Stock zu sehen.
Modell des Tempels des Apollon. Foto: KW.
Spannend waren natürlich auch die Funde aus den Syrakusanischen Heiligtümern. Dort hatte man in einem Anfall von Museumsdidaktik die Rekonstruktionen der einzelnen Tempel aufgestellt. Hier der Tempel des Apollon, den man passiert, wenn man die Insel Ortygia betritt.
Der Tempel der Athena ohne Kirche drumrum. Foto: KW.
So sah der Tempel der Athena aus, ehe man eine Kirche aus ihm machte.
Löwenkopf-Wasserspeier vom Athenatempel. Foto: KW.
Er war aus dem einheimischen Kalkstein gebaut und mit Wasserspeiern wie diesem geschmückt.
Der elegante ionische Tempel von 525 v. Chr. Foto: KW.
Diesen ionischen Tempel kann man heute nur besichtigen, wenn man ins Untergeschoß des Rathauses hinuntersteigt. Er könnte vielleicht der Artemis gewidmet gewesen sein.
Tempelschmuck aus Terracotta. Foto: KW.
Geschmückt war er mit solchen weiblichen Köpfen aus Terracotta.
Gorgo mit Pegasos im Knielaufschema. Foto: KW.
Zu welchem Gebäude diese prachtvolle Gorgo vom Ende des 7. Jh. v. Chr. gehörte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Man nimmt an, dass das Bildnis auf einem hölzernen Untergrund befestigt war und wahrscheinlich ein kleines protoarchaisches Gebäude schmückte.
Für mich ist diese Gorgo das eindrucksvollste Ausstellungsobjekt in Syrakus – außer natürlich den Münzen, die wir ja bekanntlich nicht sehen durften. Der Pegasos in ihrem rechten Arm erinnert übrigens daran, dass das Wunderpferd aus dem Hals der Medusa gesprungen sein soll, als Perseus sie köpfte.
Und damit hatten wir in kaum drei Stunden alle Räume des Museums von Syrakus – außer dem Münzkabinett – besucht. Uns blieb noch ein wenig Zeit, und so entschlossen wir uns, eine der Katakomben von Syrakus anzusehen. Sie alle sind sehenswert, wenn auch zumeist nur mit Schwierigkeiten zu besichtigen. Dies gilt nicht mehr für die Katakomben des Johannes des Täufers, für die es inzwischen tatsächlich so etwas wie reguläre Öffnungszeiten gibt. Trotzdem stehen die Katakomben immer noch im Schatten der klassischen Antike.
Die Kirche des hl. Marcian. Foto. KW.
Alle Katakomben tragen ihren Namen nach den römischen Vorbildern an der Via Appia Antiqua in Rom. Dort findet man gewaltige, mehrstöckige Systeme von unterirdischen Gängen, an denen Grabnischen liegen. Sie werden zum ersten Mal in einem Dokument aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. mit „ad catacumbas“ bezeichnet. Was das damals genau bedeuten sollte, darüber streiten sich die Gelehrten. Heute steht der Begriff „Katakomben“ für jede Form von unterirdischem Gangsystem, selbst wenn dieses – wie die berühmten Katakomben von Paris – als unterirdischer Steinbruch in der Neuzeit entstanden ist, um erst im 19. Jahrhundert als Begräbnisanlage umgenutzt zu werden.
Anders als Hollywood-Schinken und Historiendramen des 19. Jahrhunderts zu entnehmen, scheint der Hauptgrund für die Entstehung dieser Begräbnisform nicht die Flucht der Christen vor der Obrigkeit gewesen zu sein, sondern simpler Platzmangel. Schließlich wurden traditionell die Toten entlang der Ausfallstraßen beerdigt. Und dieser Platz wurde in der Spätantike enger und enger. Also ging man dort, wo dies der Untergrund ermöglichte, unter die Erde. Und so gibt es selbstverständlich nicht nur Katakomben in Rom und Syrakus, sondern an vielen weiteren Orten vor allem in Italien. Syrakus nimmt hier nur deswegen eine Sonderstellung ein, weil es nach Rom über das ausgedehnteste Gangsystem verfügt.
Der Eingang zu den Katakomben des hl. Johannes. Foto: KW.
Es gibt mehrere Katakomben in Syrakus. Am bekanntesten dürften wohl die leicht zugänglichen Katakomben des hl. Johannes des Evangelisten sein, die nahe dem Archäologischen Museum liegen. Sie wurden in der Nähe der Grabstätte eines syrakusanischen Heiligen angelegt, des heiligen Marcianus von Syrakus, der als erster Bischof der Stadt gilt. In ihm mischen sich Erinnerungen an einen ersten Bischof, den Petrus höchstpersönlich einsetzte und der unter Nero ums Leben kam, und einem wesentlich späteren Bischof, der unter Valerian zum Märtyrer gemacht wurde.
Die Krypta des hl. Marcian. Foto: Giovanni Dall’Orto. / Wikipedia.
Fotografieren ist im unterirdischen Bereich strengstens verboten, so dass wir für die Krypta auf ein Bild von Giovanni Dall’Orto zurückgreifen müssen, der entweder nicht so brav dem Guide gehorchte wie wir oder der die Krypta zu einem Zeitpunkt besuchte, als das Fotografieren noch nicht verboten war. (Ich persönlich glaube ersteres, weil selbst dieser unermüdliche Fotograf von den unterirdischen Gängen kein Foto zur Verfügung stellt.)
Wir besichtigten unter den unendlich langweiligen Erklärungen eines Guides, der alles auch noch in mehreren Sprachen wiederholte, zunächst die Krypta des hl. Marcian. Dies könnte durchaus eine der ältesten bekannten christlichen Kultstätten sein. Hier stand schon im 4. Jahrhundert eine mächtige Kirche, die Jahrhunderte lang als Dom diente, ehe im 7. Jahrhundert der alte Athenatempel diese Aufgabe übernahm. Ihr Zentrum war das Grab des hl. Marcian in der Krypta und eine Säule, an der er angeblich sein Martyrium erlitten haben soll. Außerdem schmückt noch heute ein Steinaltar die Stelle, an der der hl. Paulus bei seinem Besuch in Syrakus gepredigt haben soll.
Endlich wieder im Tageslicht. Foto: KW.
Danach ging es durch endlose Gänge mit Einzel-, Doppel- und Familiengräbern, mit Resten von Malerei und gemauertem Wandschmuck. Große Rotunden bieten immer wieder die Möglichkeit zur Orientierung, wobei man sich schon von selbst bemüht, den Anschluss zur Gruppe lieber doch nicht zu verlieren.
Übrigens dienten die Katakomben im 2. Weltkrieg als Luftschutzbunker, denn Syrakus war durch seinen Afrika gegenüber gelegenen Hafen ein wichtiges militärisches Ziel der Alliierten. Es wurde im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten ausgebombt und im Rahmen der Operation Husky erobert.
Und damit hatten wir schon wieder genug. Das Wetter war schön, es hätte noch so viel zu sehen gegeben, aber wir zogen es vor, uns noch einige Stunden in unserem so ruhigen Quartier zu gönnen, denn dass es mit der Ruhe vorbei sein würde, sobald wir am nächsten Tag nach Palermo kämen, das war abzusehen.
Begleiten Sie uns auch auf dem letzten Teil unserer Reise, in die Conca d’oro, das goldene Becken von Palermo, das auf engstem Raum mehr Sehenswürdigkeiten bietet als manch einer sich vorstellen kann. Und dabei steht ausnahmsweise die Antike nicht an erster Stelle.
Sie finden hier alle Teile der Reihe „Blühendes Sizilien“.