Türkischer Frühling – Teil 2

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von Ursula Kampmann

2. Mai 2013 – Auch 2013 gibt es ein numismatisches Tagebuch. Und wie immer ist die Reise voll ungeplanter Schönheiten, aber auch von Missgeschicken. In Teil 2 durchqueren wir Griechenland, setzen über nach Asien und scheitern bei der Suche nach Lampsakos und Kyzikos.

Mittwoch, 17. April 2013
Es fiel uns schwer, das gastliche Bozen zu verlassen. Aber unsere Kabine für die Fähre von Ancona nach Igoumenitsa war gebucht. Darüber, wie lange wir von Bozen nach Ancona brauchen würden, gab es unterschiedliche Meinungen. Google Map empfahl, vier Stunden 20 Minuten einzuplanen. Von den Bozenern hörten wir, dass man schon sechs Stunden einrechnen sollte; und wenn es dann noch einen der häufigen Unfälle gäbe … Im Hotel befragte man den Routenplaner von Michelin, der von guten fünf Stunden sprach. Und wir hatten jetzt die Wahl, welcher Version wir glauben wollten.
Ich war immer schon für Sicherheit. Deshalb fuhren wir bereits um 7.00 Uhr morgens ab. Eine wahrlich unchristliche Zeit für den Urlaub! Ein großes Kompliment an das Hotel Scala-Stiegl, das uns trotzdem mit einem großen Frühstück (und ausreichend starkem Espresso) versorgte.
Im Nachhinein wäre so ein früher Aufbruch gar nicht notwendig gewesen. Wir waren in Rekordzeit in Ancona.

Von Ancona nach Igoumenitsa mit Minoan Lines. Foto: KW.

Eigentlich war im Fährhafen von Ancona alles gut organisiert, jedenfalls bis es daran ging, die Pkws, Camper und Lastwagen an Bord zu verstauen. „Venga! Venga! Venga!“ Ein junger Italiener versuchte mit Lautstärke und eindrucksvoller Gestik den verschüchterten Autofahrern klarzumachen, wo ihr Auto nun zum Stehen kommen sollte – und das aber bitte möglichst dalli. Ich schaute ihm amüsiert zu. Er fand sich beobachtet und strahlte mich an: „È una guerra psicologica!“
Die Fahrt dauerte rund 20 Stunden. Es war sehr bequem. Die Fähre war praktisch leer. Touristen fehlten fast völlig. Die Autos mit deutscher Nummer teilten sich mehr oder weniger in zwei Gruppen: Völlig überladen – Türken, die ihre Verwandtschaft besuchten; leer – Gebrauchtwägen, die von Serben, Bulgaren und Rumänen in den Osten überführt wurden.

Um 11.00 kamen wir in Igoumenitsa an. Die neue Autobahn auf der Trasse der alten Via Egnatia brachte uns in gut vier Stunden nach Kavala, also ins antike Neapolis, wo wir bereits eine Art Stammhotel haben. Entdeckt hatten wir es auf unserer ersten Reise nach Griechenland. Bei unserer zweiten Reise 2011 waren wir dort zum zweiten Mal abgestiegen. Nun wollten wir wieder übernachten. Und hatten gewaltiges Glück: Die alte Oma war zufällig im Hotel, um alles für die Saison fertig zu machen. Sonst wäre das Haus noch geschlossen gewesen. Touristen um diese Zeit! Die erwartete man offenbar noch nicht. Was übrigens auch für die Restaurants galt. In der näheren Umgebung war nichts offen. Und so hieß es zähneknirschend mit knurrendem Magen ins Bett.

Blick auf Kavala. Foto: KW.

Donnerstag, 18. April 2013
Es waren bisher ziemlich hektische Tage gewesen! So beschlossen wir, uns einen ersten Ruhetag zu gönnen. Na ja, was man halt so unter Ruhetag versteht. Auf jeden Fall blieb das Auto daheim stehen, und wir fuhren mit dem Bus nach Kavala. Ein klein bisschen aufregend war es schon, vor allem als wir kurz nach dem Aussteigen merkten, dass wir weder wussten, wie die Endstation des Busses hieß, den wir zurück nehmen mussten, noch den Namen des kleinen Vororts, wo unser Hotel lag. Aber wir mussten ja erst in ein paar Stunden zurück. Bis dahin würde es sich schon finden. (Tat es auch. Wir besuchten die Touristeninformation, und dort lagen Prospekte unseres Hotels aus, in denen die Adresse zu finden war.)

Kyzikos? Foto: KW.<" target="_blank">Kavala, das antike Neapolis, und seine Umgebung hatten wir ja bereits 2011 besucht. Aber bis jetzt hatten wir es noch nie geschafft, das archäologische Museum zu besichtigen.

Blick in einen der Museumssäle. Foto: KW.

Auch dort war man ziemlich überrascht, einen Touristen zu sehen. Wir waren die einzigen Besucher. Extra für uns wurde im ganzen Museum das Licht angeschaltet! Auch das Museum von Kavala war nagelneu. Man hatte einen neuen Flügel angebaut, so dass das Gebäude gegenüber dem Ausgestellten ziemlich überdimensioniert wirkte. Immerhin, ein Teil der Säle war hervorragend und ausgezeichnet beschriftet mit einer Ausstellung zur Geschichte von Neapolis gestaltet. Die anderen Säle wirkten eher zufällig.

Hellenistische Goldfolien in Münzform. Foto: KW.

Am Eingang waren interessante Objekte in mehreren Vitrinen ausgestellt – mit Rudimentärbeschreibung und leider ohne Fundorte. Das Material war allerdings sehenswert, wie diese Goldplättchen mit Münzmotiven. Sie sollen dazu gedient haben, den Toten als Obolos für den Fährmann Charon in den Mund gelegt zu werden.

Halskette mit münzförmigen Anhängern. Foto: KW.

Ob dies tatsächlich stimmen kann, fragt man sich, wenn man in derselben Vitrine nach links schaut. Dort sind ähnliche Münzfolien mit Ösen versehen und als Anhänger einer Halskette benutzt.

Antikes Puderdöschen. Foto: KW.

Ausnehmend gut gefiel mir dieses antike Puderdöschen mit Schwämmchen, das zur leichteren Handhabung in Leder gefasst war. In der Dose sollen sogar noch Puderreste sein.

Eisenschlacke mit Goldpartikeln. Foto: KW.

Die Ausstellung präsentierte sozusagen als Einstieg in die Geschichte von Neapolis mehrere Mineralien und Schlacken, die für den Goldbergbau in der Gegend standen. Kolonisten von Paros hatten auf Thasos eine Siedlung gegründet, um den dortigen Goldabbau zu kontrollieren. Natürlich warfen sie auch ein Auge auf die Edelmetallvorkommen des Festlands, wo einheimische Stämme ganz und gar nicht begeistert waren, ihre Minen mit den Neuankömmlingen zu teilen.

Parisches Gefäss 650-600 v. Chr. Foto: KW.

Wie auch immer, Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. müssen die neuen Siedler im Gebiet von Neapolis gewesen sein. Gefäße im parischen Stil legen dafür Zeugnis ab.

Reste vom Tempel der Athena Parthenos. Foto: KW.

Der größte Saal ist den Resten des Tempels für Athena Parthenos gewidmet. Das kleine Tempelmodell halten die Archäologen übrigens für ein Behältnis, in dem Geld, das Gläubige dem Tempel geschenkt hatten, aufbewahrt wurde.

Münzvitrine. Foto: KW.

Münzen waren auch ausgestellt, allerdings handelte es sich wohl zumeist um Galvanos.

Kleiner Schatzfund. Foto: KW.

Original war ein kleiner Schatzfund mit 55 Denaren und Antoninianen bis zur Zeit von Gordian III., der im Stadtzentrum von Kavala zum Vorschein gekommen war.

Statue für Mehmed Ali, Vizekönig von Ägypten. Foto: KW.

Doch das archäologische Museum ist nicht die einzige Kostbarkeit, die Kavala zu bieten hat. Hier wird das Geburtshaus Mehmed Alis gezeigt, Sohn einer reichen albanischen Familie, der im Dienste des osmanischen Sultans bis zum Vizekönig von Ägypten aufstieg und eine Dynastie gründete.
Mehmed Ali wurde 1769 geboren. Die besten Möglichkeiten bot ihm damals das Militär. So trat er in den Dienst des osmanischen Sultans, wo er sich im Kampf gegen Napoleon in Ägypten auszeichnete. Er erhielt dafür ein hohes Kommando. Dies nutzte er, um 1805 während einer Auseinandersetzung zwischen Mameluken und Osmanen Kairo in Besitz zu nehmen. Zunächst kooperierte Mehmed Ali mit den Mameluken, doch 1811 befahl er den ihm treuen Albanern die Ausrottung der alten ägyptischen Militärkaste. Rund 1.000 mamelukische Traditionalisten kamen damals ums Leben und machten den Weg frei für den Aufbau einer effektiven Verwaltung und die Modernisierung des Landes.

Mehmed Ali. Bronzemedaille 1271 H. (1855) auf die Grundsteinlegung zur Festung Saidjeh im Nil zum Geburtstag des Vizekönigs. Gorny & Mosch 172 (2008), 6571.

Mehmed Ali initiierte große Infrastrukturprogramme. Er schickte Ägypter nach Europa, um dort zu lernen, wie man Landwirtschaft und Industrie nach neuesten Methoden organisiert. Insgesamt steigerte er die Staatseinnahmen Ägyptens bis 1821 um mehr als das Fünffache. Auch das Militär wurde reorganisiert. Mehmed Ali wurde zum bewaffneten Arm des osmanischen Sultans. Er kämpfte in seinem Auftrag gegen die vielen Feinde des Reichs, bis ihm eine versprochene Rangerhöhung vorenthalten wurde. Dies nahm er zum Anlass, um sich selbst große Teile des zerfallenden Reichs einzuverleiben: Palästina, Syrien, ja Mehmed Ali drang bis bis nach Anatolien vor.

Mehmed Ali. Bronzemedaille 1839 auf seinen Sieg als Vizekönig von Ägypten über den Sultan in Nessib. Gorny & Mosch 172 (2008), 6502.

1839 besiegten die ägyptischen Truppen die osmanische Armee. Mehmed Ali hätte Konstantinopel erobern können, wäre den europäischen Großmächten nicht ein schwacher osmanischer Herrscher willkommen gewesen. Mehmed Ali musste seine Eroberungen wieder räumen und Ägypten für europäische Investoren öffnen. Dafür erkannte man ihn als erblichen Vizekönig in Ägypten an. Er starb 1849. Seine Dynastie herrschte noch bis 1914, als die Briten den letzten ägyptischen Vizekönig absetzten.

Geburtshaus von Mehmed Ali in Kavala. Foto: KW.

Und das Geburtshaus dieses interessanten Mannes kann man in Kavala besichtigen.

Blick in den Aufenthaltsraum der Männer. Foto: KW.

Es gibt einen guten Einblick, wie eine reiche Familie Mitte des 19. Jahrhunderts im osmanischen Reich lebte.

Und damit hatten wir erst einmal genug. Wir schauten, in welchem Restaurant am meisten Griechen aßen und fanden einen wunderbaren Platz, um das magere Abendessen vom Vortag zu vergessen. Die Zahl der Vorspeisen war einfach gewaltig. Und dabei waren wir eher bescheiden. Am Nebentisch brachte der Kellner Gericht um Gericht. Ausgebackene Zucchini, eingelegte Tintenfische, Salat aus roten Rüben, Auberginen in roter Sauce, frittierte Sardinen, überbackene Muscheln, Spinat, Krabben, gefüllter Oktopus, und und und …
Es ist schon bemerkenswert, wie sehr sich Lebensart im Essen wiederspiegelt. Kann man sich in Deutschland oder der Schweiz vorstellen, dass es in einem Restaurant nur gemeinsame Platten gibt, von denen jeder, der am Tisch sitzt, nimmt, was er will? Bei uns gilt es schon als mega-großzügig, wenn nach dem Essen die Rechnung geteilt wird, gleichgültig wer was bestellt hat. In Griechenland dagegen streitet man sich um die Ehre, die Rechnung zahlen zu dürfen …

Freitag, 19. April 2013
Heute ging es weiter, in die Türkei. Nach etwa zwei Stunden waren wir an der Grenze angelangt. Ich gebe es zu, wir stellten uns ziemlich dumm an, aber wir sind einfach keine Grenzen mehr gewohnt, vor allem nicht dass man sie mit einem Auto überquert.
Ich hatte gelesen, dass das Fahrzeug im Pass des Besitzers eingetragen wird. Also hielt ich dem ersten Beamten, den ich an der Grenze sah, meinen Pass, meine Fahrzeugpapiere und die grüne Versicherungskarte unter die Nase. Der gab mir alles ziemlich entnervt zurück und winkte uns weiter. Wir hatten eben erst bei der griechischen Kontrolle das Land verlassen.
Weiter fuhren wir in ein Niemandsland, in dem ein gigantisches Einkaufszentrum und eine riesige Tankstelle stand, an der man zollfrei tanken konnte. Unsere aufgeregte Suche nach einer offenen Tankstelle in Griechenland wäre also gar nicht nötig gewesen.
Wir überquerten eine Brücke, an der bewaffnete Griechen und Türken Wache hielten und uns freundlich beim Vorbeifahren zuwinkten. Ja, und damit waren wir endlich im türkischen Grenzbereich. Vier Abschnitte galt es dort zu meistern. Zunächst kontrollierte der erste Beamte unsere Pässe und winkte uns weiter. Dann standen wir geduldig an, um das Auto in den Pass eintragen zu lassen. Dafür wurden aufwändig Autopapiere und grüne Versicherungskarte über Internet kontrolliert und genau dokumentiert. Es folgte eine (bei uns) ziemlich oberflächliche Kontrolle des Gepäcks. Dafür musste man aber erst einmal die Aufmerksamkeit eines Kontrolleurs erregen. Wer hier zu schüchtern war, stand problemlos ein paar Stunden herum. Der junge Mann ordnete an, die Koffer zu öffnen. Er griff unter meine Wäsche, fischte meine Teefilter heraus und musste selbst lachen, als er sah, welch gefährliche Beute er da gemacht hatte. Er versah unseren Pass mit seinem Häkchen, so dass wir zur letzten Station fahren konnten, wo ein Beamter alle Vermerke in allen Pässen kontrollierte und die Schranke nur aufmachte, wenn auch wirklich alles vorhanden war.

Fähre über die Dardanellen bei Gelibolu. Foto: KW.

Und damit waren wir in der Türkei. Was man übrigens sofort merkte! Die Straße wurde sofort schlechter. Dafür war wesentlich mehr Verkehr. Wir sahen Bauern auf den Feldern und Tausende von Tankstellen. Die Türkei verfügt anscheinend über das dichteste Tankstellennetz, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.
Bei Gelibolu (von Kallipolis, also der schönen Stadt) fuhren wir quer über die Einfahrt zu den Dardanellen nach Lampsakos. Wir bewegten uns also auf zutiefst historischem Gebiet. Ganz in der Nähe fand 405 v. Chr. die Seeschlacht von Aigospotamoi statt, in der die Spartaner über die Athener siegten und damit den Peloponnesischen Krieg zu ihren Gunsten entschieden.

Lampsakos (Mysien). Stater, Ende 6. / Anfang 5. Jh. v. Chr. Gorny & Mosch Mosch 199 (2011), 355.

Zielhafen war Lampsakos, ja genau, das Lampsakos, dem wir die prachtvollen Goldstatere mit der Pferdeprotome verdanken …

Lampsakos (Mysien). Drachme, ca. 500-450. Gorny & Mosch 211 (2013), 301.

… und die wundervollen Silberdrachmen mit dem weiblichen Doppelkopf auf der Vorderseite.

Blick auf Lampsakos? Foto: KW.

Natürlich wollten wir sehen, wie es heute in Lampsakos aussieht. Wir suchten gespannt die Grabung, nur um nach einer halben Stunde festzustellen, dass uns unsere Fähre nicht nach Lampsakos, sondern nach Cardak gebracht hatte. Wir kehrten also um auf der Suche nach dem antiken Lampsakos. Und wir kehrten noch einmal um. Und wir kehrten wieder um. Doch obwohl wir unsere Kreise dichter und dichter zogen, eine Grabung oder irgendwelche Mauerreste waren in Lampsakos nicht mehr zu sehen. Es handelte sich um ein quicklebendiges, alles andere als antikes Provinzstädtchen, was wir natürlich bei rechtzeitiger Lektüre eines Reiseführers schon hätten vorher wissen können …
Ziemlich gefrustet fuhren wir weiter – vorbei am Can Cay, dem antiken Granikos, an dem Alexander, genannt der Große, beim heutigen Biga seine erste Schlacht gegen die Perser kämpfte. Zu sehen war davon natürlich nichts. Nicht einmal ein Hinweisschild.
Überhaupt Hinweisschilder … Dazu scheint die Türkei ein eigenes Verhältnis zu haben. Es gibt sie. Allerdings eigentlich nie dort, wo man sie vielleicht brauchen würde. Wir wollten ja unsere erste Nacht auf asiatischem Boden beim antiken Kyzikos verbringen. Unser erster Versuch, auf die Halbinsel im Marmarameer zu gelangen, scheiterte kläglich. Wir fuhren über abenteuerliche Straßen durch ein extrem ursprüngliches Dorf – verfallene Holzhäuser, Hühner auf der Straße, staunende Männer in den Straßencafés – nur um nach einer knappen Stunde und viel Angstschweiß vor einer Straßensperre zu stehen, die anzeigte, dass man hier nicht mehr weiterkäme. Ein Hinweisschild am Anfang dieser Route hätten wir zu schätzen gewusst. Also eine knappe Stunde wieder zurück, zweiter Versuch auf einer anderen Strecke. Diesmal klappte es. Wir erreichten Erdek, Zentrum des türkischen Tourismus am Marmarameer.

Der Gipfel des türkischen Luxus: Hotel Agrigento in Erdek. Foto: KW.

Zuerst wollten wir uns ein Quartier suchen. Etwas überrascht stellten wir fest, dass die unzähligen Hotels alle geschlossen waren. Doch welches Glück! Das als „Modern und komfortabel“ in unserem Reiseführer geschilderte Hotel Agrigento hatte offen. Es standen höchstens drei Reisebusse davor, deren Insassen sich drinnen plärrend um die Rezeption drängten, um ihre Zimmerschlüssel in Besitz zu nehmen.
Die Lobby war wirklich sehenswert. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel geballten Kitsch auf einem Haufen gefunden. Nachdem wir eine Dreiviertelstunde vergeblich versucht hatten, die Aufmerksamkeit irgendeines Zuständigen zu gewinnen, gaben wir auf. Es konnte doch nicht sein, dass dies das einzige offene Hotel in Erdek sein würde.
War es natürlich auch nicht. Es gab im ganzen Ort noch ein einziges anderes. Es hieß Hotel Helin, war offen, aber äußerst renovierungsbedürftig. Nun ja, zum Schlafen würde es wohl gehen. Wir wollten ja zuerst Kyzikos sehen!

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Kyzikos (Mysien). 1/12 Stater, 550-500. Pantherkopf, r. Thunfisch. Gorny & Mosch 199 (2011), 337.

Kyzikos wurde 756 von der Stadt Milet aus gegründet. Wer einmal die Lage gesehen hat, weiß, dass die Stadt gar keine andere Chance hatte als eine wichtige Handelsstadt zu werden. Kein Wunder, dass es zwei Kyzikener gewesen sein sollen, die den direkten Seeweg von Ägypten nach Indien entdeckten. Die Währung der Stadt, die Kyzikener aus Elektron, lief im gesamten Schwarzmeerbereich um. Und diese Gegend war für den griechischen Handel äußerst wichtig. Hierher kamen die Getreidevorräte für Großstädte wie Athen. Aus dem nördlichen Schwarzmeerbereich bezog man in Friedenszeiten aber auch die Sklaven, die die antike Wirtschaft am Laufen hielten.
In der hellenistischen Epoche kontrollierten zunächst die Seleukiden die Siedlung, ehe sie in den Einflussbereich der Attaliden kam. Endgültig ging ihre Freiheit unter Augustus verloren.

Iustin II., 565-578 n. Chr. 40 Nummi, 567/8, Kyzikos. Gorny & Mosch 212 (2013), 3120.

670 eroberten die Araber kurzzeitig Kyzikos, um von dort aus die Einnahme Konstantinopels zu betreiben. Erst Iustinian II. gelang es, die Stadt wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Er führte 690 eine Zwangsumsiedlung von Zyprioten nach Kyzikos durch.
Im Frühmittelalter litt die Gegend unter einer Reihe von Erdbeben, die vermutlich auch dazu führten, dass die Stadt seit dem 11. Jahrhundert nach und nach verlassen wurde.

Hier sollte Kyzikos liegen. Foto: KW.

Ja, wir waren uns bewusst, dass wir nicht viel in Kyzikos zu sehen bekommen würden. „Letztlich nur für archäologische Spezialisten interessant sind die spärlichen Reste des antiken Kyzikos“, wie unser Reiseführer schrieb. Aber immerhin, für einen „archäologischen Spezialisten“ wollte ich mich doch halten. Allerdings bin ich trotz Spezialistentums kein Hellseher. Ein kleiner Hinweis auf irgendwelche Reste wäre äußerst nützlich gewesen. Wenigstens ein winzigkleiner! Aber es gab rein gar nichts. Wir fuhren etwa zwei Stunden auf Verdacht über unbefestigte Straßen und suchten alles ab, was uns potentiell verdächtig erschien.

Kyzikos? Foto: KW.

Machen wir es kurz. Wir fanden nichts, was sich des Vorstellens hier lohnen würde. Und wir kamen uns reichlich dumm vor, denn irgendwo gleich hinter der nächsten Ecke mussten diese blöden Ruinen doch sein!!!
Mit hängenden Köpfen fuhren wir heim, nur um festzustellen, dass auch unser Hotel vom türkischen Inhalt vierer Reisebusse erobert worden war. Sie belegten die Lobby, die Essenssäle, die Veranda. Und wir beschlossen nach einem kurzen, vergeblichen Versuch, etwas zu essen zu bekommen, dass uns eine kleine Fastenkur nur gut bekommen könnte. Rückzug ins Zimmer, wo das Bett einer ausgebeulten Hängematte glich. Unruhige Nacht und der Entschluss, nie mehr im Leben nach Kyzikos zurückzukehren.

Tiefste Verzweiflung? Aber nein, nur ein kurzfristiger Fehlschlag. Der nächste Teil unserer Türkeireise wird uns in ein kleines Paradies führen, in die Troas, ins unverdientermaßen weithin unbekannte Assos.

Alle Teile der Serie „Türkischer Frühling“ finden Sie hier.