2. August 2018 – Seit einigen Wochen wird eine aufgeregte Debatte über Dokumente des Islamischen Staates (IS) geführt, die die Auslandskorrespondentin der New York Times, Rukmin Callimachi, 2017 in Mosul fand und für Recherchezwecke in die USA mitnahm. Die Erkenntnisse, die sie aus diesem Material im Hinblick auf die Finanzierung und Organisation des IS in den von ihm besetzten Gebieten gewann, sind grundlegend. Dennoch ist die Journalistin von einigen Seiten für ihr Vorgehen kritisiert worden – insbesondere das Committee for Academic Freedom der Middle East Studies Association (MESA) steht aufgrund seiner kritischen Äußerungen im Fokus des vorliegenden Berichts.
Dokumente enthüllen die wahren Finanzquellen des IS
Mit seinem Abzug aus Mosul hinterließ der IS tausende Dokumente, die entscheidende Informationen bieten im Hinblick auf die verwaltungstechnischen und bürokratischen Grundlagen der terroristischen Organisation. Zwar wurden in jüngster Vergangenheit bereits wiederholt Beweise diesbezüglich vorgebracht, dennoch konnte Callimachi mit ihrer Recherche in beispiellosem Umfang aufzeigen, dass die weit verbreitete Behauptung, der IS finanziere sich zu großen Teilen durch den Verkauf geraubter Kulturgüter, nicht haltbar ist. Auf Basis dieser These war der Handel mit Antiquitäten aus dem Nahen Osten in vielen Ländern weitgehend zum Erliegen bekommen.
Tatsächlich sind es alltäglicher Handel, die Beschlagnahmung sowie Verkauf von Immobilien, in großem Umfang eingeführte Steuern und Strafgebühren sowie erzwungene Arbeit unter Androhung von Gewalt, aber eben nicht Öl, Lösegelder oder der Handel mit geraubten Antiken, die den IS in Mosul finanzierte.
Die Dokumente, die die amerikanische Journalistin fand und für die Veröffentlichung bearbeitete, sind deshalb entscheidend für unser Verständnis der neusten irakischen Geschichte und unabdingbar für das zukünftige militärische Vorgehen gegen den islamistischen Terrorismus, wie die erfolglosen Bombardierungen von Ölanlagen des IS gezeigt haben.
Wer besitzt die Deutungshoheit zur irakischen Geschichte?
Nun geht es in der Diskussion, die auf die Veröffentlichung dieser Informationen folgte, aber weniger um den eigentlichen Inhalt der Dokumente, als um die Frage, wer über das Eigentumsrecht dieser Dokumente verfüge, in wessen Besitz sie sich dementsprechend befinden sollten und vor allem wer über die Deutungshoheit verfügt.
Kritiker stellen damit das Recht und die Pflicht von Journalisten und Historikern in Frage, die Wahrheit herauszufinden und zu erzählen. Das bereits erwähnte Committee for Academic Freedom der MESA prangert in diesem Zusammenhang an, dass diejenigen, die Callimachi die Erlaubnis gaben, die besagten Dokumente mitzunehmen, nicht diejenigen gewesen sein, die ihr diese Erlaubnis hätten geben dürfen. Außerdem verstoße es grundsätzlich gegen irakisches Gesetz, solches Material aus dem Land zu bringen. Darüber hinaus argumentiert das Komitee, dass die Dokumente nicht nur der irakischen Regierung gehören, sondern diese es auch allein sei, die das Recht habe, die irakische Geschichte zu erzählen.
Callimachis Handeln sei deshalb ein weiteres Beispiel dafür, dass ausländische Mächte es sich anmaßen würden, die irakische Geschichte einzig aus ihrer Sicht zu erzählen.
Freiheit der Forschung?
Diese Kritik an der Arbeit der NYT-Reporterin von Seiten der MESA verwundert, hat es sich die Non-Profit Organisation doch zur Aufgabe gemacht, akademische Forschung im Nahen Osten zu unterstützen, unabhängige Recherche zu fördern und sich für interkulturellen Austausch einzusetzen. Insbesondere das Committee for Academic Freedom der MESA setzt sich zum Ziel, den freien Austausch von Wissen als Menschenrecht ohne jegliche staatliche Einschränkung voranzutreiben. Das ist im Hinblick auf die jüngste Geschichte im Nahen Osten, die aufzeigt, wie akademische Forscher in den vergangenen 30 Jahren immer wieder unterdrückt, Bibliotheken abgebrannt und einige Universitätsprofessoren sogar umgebracht wurden, unabdingbar.
Zum einen entsprechen also die Aussagen des Komitees nicht den eigenen Zielsetzungen, zum anderen greifen auch Argumente nicht, die beispielsweise vorbringen, es seien irakische Bürger in Lebensgefahr, weil ihr Namen und Gesichter von der NYT nicht geschwärzt worden sind. Das entspricht nicht der Wahrheit. Auch erwähnen sie nicht, dass die irakische Regierung bereits widerholt Forschern den Zugang zu Quellenmaterial verweigert hat, wenn sie als politische Feinde eingestuft wurden – ganz zu schweigen von dem Umgang mit jüdischen Akademikern und der jüdischen Bevölkerung des Irak.
Wahrheit contra nationale Ansprüche
Alle profitieren davon, wenn ausländische Forscher die Geschichte anderer Nationen, Zeiten und Kulturen untersuchen, wobei man durchaus die Art und Weise kritisieren kann, wie Forscher Zugang zu bestimmten Quellen finden. Grundsätzlich sollte die Gesetzgebung eines Landes berücksichtigt werden.
Im Übrigen ist aus dem irakischen Kulturgütergesetz nicht ersichtlich, ob die Ausfuhr der verhältnismäßig neuen Dokumente des IS nach den dort festgehaltenen Kriterien tatsächlich verboten ist. Und hätte sich Rukmini Callimachi nicht dafür entschieden, diesen Weg zu gehen, würden wir wahrscheinlich noch viele Jahre lang auf Vermutungen angewiesen sein, wie sich der IS finanziert hat.
Und damit stellt sich die Jahrhunderte alte Frage: Darf ein Staat den Anspruch darauf erheben, im Besitz der historischen Wahrheit zu sein? Ist jemals ein Staat uneigennützig und verantwortlich mit seiner Geschichte umgegangen?
Der dieser Zusammenfassung zu Grunde liegende Artikel erschien auf der Website von Cultural Property News. Cultural Property News ist Spenden-finanziert. Wenn Sie die großartige Arbeit unterstützen möchten, besuchen Sie bitte ihre Website.
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