Ein ausgedienter Klingelbeutel erzählt eine Weihnachtsgeschichte

Ein Klingelbeutel wird herumgereicht. Gemälde von K. E. Jansson
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Als ich wieder einmal in die Glockenstube eines alten sächsischen Kirchturms geklettert war, um ein Glockenspiel aus Meißner Porzellan zu besichtigen, sah ich dort neben anderen ausgedienten Gegenständen einen roten Klingelbeutel in der staubigen Ecke liegen. Die lange Stange, an der der Beutel einst befestigt gewesen war, bestand nun aus zwei Hälften. Der Beutel hatte offenbar ausgedient, denn unten in der Kirche stellt man lieber verschlossene Büchsen oder Spendenkörbe auf, statt den Vertreter aus rotem Samt herumzureichen. „Armer Kerl“, so dachte ich. Was hast du in deinem Leben wohl schon so alles erlebt? Es wäre doch zu schön, wenn du mir nur ein wenig darüber erzählen könntest. Eine innere Stimme antwortete mir plötzlich. „Dazu musst du dich heute um Mitternacht an deinen Schreibtisch setzen. Schließe einfach deine Augen und höre mir zu.“ Gesagt, getan.

Ein altehrwürdiges Geschlecht

Es war Mitternacht. Ich saß am Schreibtisch, schloss meine Augen und schon befand ich mich wieder in der winzigen Turmstube. Durch die kleinen Kirchenfenster der Stadt „Weißnichtwo“ tanzten winzige Schneeflocken herein. Alles was hier oben rumstand und offenbar nicht mehr verwendet wurde, war nun in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Mit einer knarrenden Stimme sagte gerade die graue Windlade zum Klingelbeutel in der Ecke: „Nun, verehrter Herr im roten Rock, wollte er uns nicht ein wenig aus seiner Lebensgeschichte berichten?“ Der Klingelbeutel machte eine elegante Verbeugung und sprach: „Nun, Sie müssen wissen, gnädige Dame, meine Familie ist schon sehr alt. Schon in der ersten Christenheit mögen die frühsten meiner Ahnen gelebt haben; aber irgendein bestimmtes Jahr vermag man nicht zu nennen. Es ist nur bekannt, dass sich damals schon bei der Abendmahlfeier zwei Diakonen mit einem Sack in der Hand links und rechts vom Altar aufstellten. Die Gemeindemitglieder traten hinzu und legten in diese Säcke Brot und andere Nahrungsmittel. Wer konnte, der gab eine Münze. Somit ist der Sack, der die ersten Münzen aufnahm, wohl der eigentliche Stammvater unseres Geschlechtes gewesen. Etwas später wurden dann fast nur noch Münzen in den Sack gegeben. Dabei gab es auch schon einen Verteilungsplan für die Gaben. Zu je einem Viertel wurden die Erträgnisse des ‚Sammelsackes‘ dem Bischof, den Armen, den Geistlichen und sonstigen Kirchendienern, die ja allgemein zu den Armen gezählt wurden, zugeteilt. Das letzte Viertel wurde dagegen zur Unterhaltung des Kirchengebäudes verwendet.

Wie der Klingelbeutel zu seinem Namen kam

„Um diese Zeit mag es auch geschehen sein, dass man den Sack zu einem Säcklein zusammenschrumpfen ließ, das nunmehr an einem Stab befestigt zur Messe von den Diakonen herumgetragen wurde. Meine Verwandten hat man meist aus Leinentuch gefertigt. War die Gemeinde wohlhabender, wurde gern zu Samt und Seide gegriffen. Am fertig genähten Sack befestigte man an der Spitze noch ein Glöcklein, damit die Gemeinde es bemerkte, wenn er herumgereicht wurde. Oftmals waren am oberen Rande noch zusätzlich kleine Schellen angebracht. Das alles führte dann schnell zu meinem Namen ‚Klingelbeutel‘. Aber auch ‚Säcklein am Steben‘ oder ‚Klingsack‘ ist für mein Geschlecht urkundlich belegt. Im Laufe der Jahre wurden die Gaben im Klingelbeutel auch für andere Zwecke, zum Beispiel für Spitäler, Kirchenbauten und Heiligenbilder verwendet. Ab und zu konnte man sich durch eine Gabe in den Klingelbeutel einen ‚gelinden‘ Ablass seiner Sünden verdienen. Die Reformationszeit überdauerten meine Ahnen recht gut, denn der Herr Doktor Martinus (Martin Luther) kannte unser Geschlecht sehr wohl und räumte uns einen beachtlichen Platz in seiner Kirchenordnung ein.

Ein Symbol für Ehre und Ansehen

Das Herumtragen des Klingelbeutels geschah durch besondere, aus der Gemeinde dazu sorgfältig ausgewählte Männer und galt als Ehren- und Vertrauensamt. Sie wurden als Kirchenväter, auch Kirchenälteste bezeichnet; in Norddeutschland nannte man sie „Ummelöper“ und in Hamburg gehörten sie sogar dem ehrwürdigen Rate an. Überall genossen sie großes Ansehen. Den „Oberalten“ einer Gemeinde oblag die wichtige Aufgabe, darauf zu achten, dass jedem Kirchenbesucher der Klingelbeutel vorgehalten wird. Dabei war es egal, ob man etwas hineingeben wollte oder nicht. Es galt einst als regelrechte Schande und Beleidigung, wenn dies versäumt wurde. Gerichtsakten aus Frankfurt an der Oder berichten sogar über die Klage eines Kirchenbesuchers, welchem der Beutel nicht vorgehalten wurde. Der Kirchenvater wurde zu einigen Talern Strafe verurteilt, weil er dadurch den Gottesdienst ‚turbiret‘ (gestört, für Verwirrung gesorgt) hätte.

Den Kirchenvätern oblag es auch, zusammen mit den Geistlichen die Klingelbeutelgelder nachzuzählen und zu buchen. Die meist kleinen eingelegten Kupfermünzen wurden von den Kirchenvätern in große Münzen umgewechselt. Aus einer sächsischen kurfürstlichen Verordnung von 1798 geht hervor, dass einige Kirchväter bei der Abrechnung von Pfennigen zum Taler nach unten abgerundet haben sollen. Auch die übersteigenden Spitzen sollen in der eigenen Tasche verschwunden sein. Für das ‚Pfennigwechseln‘ selbst erhielten die Kirchenväter eine Vergütung, welche in Sachsen mit bis zu 25 Mark pro Jahr recht üppig ausfiel. Zur Ersatzleistung für die leider oft in die Klingelbeutel gelegten Knöpfe war allerdings kein Kirchendiener verpflichtet.

Das Ende des Klingelbeutels

In verschiedenen Orten Sachsens, besonders im Erzgebirge, bestand eine Kleidervorschrift für die Kirchenväter. Sie übten ihr Ehrenamt an den Sonn- und Feiertagen im Talar ohne Ärmel sowie einem Barett aus. Einige Kirchenväter versahen in dieser würdigen Kleidung das ihnen übertragene Amt bis ins hohe Alter hinein. Doch bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts gingen die Nachfolger aus. So kam es, dass sich immer mehr Kirchengemeinden zur Abschaffung des Klingelbeutels entschlossen. Seit dieser Zeit sind viele unseres Geschlechts verschwunden. Als Ersatz konnten nun in Sachsen, nach einer diesbezüglichen behördlichen Verordnung von 1868, an den Kirchentüren verschlossene Büchsen zum Sammeln angebracht werden. Damit hatte man unser schleichendes Ende besiegelt.“

Der alte ausgediente Klingelbeutel seufzt leise und ergänzt, „Seht, so angesehen war einst unser Geschlecht, und heute stehe ich als einer der vielen hier in der staubigen Ecke, ein armer, abgedankter, mottenzerfressener Klingelbeutel.“ Gerührt wischen sich die Zuhörer in der Turmstube die Tränen aus den Augen. Auch die alte Windlade quietscht traurig vor sich hin und sagt: „So bleibe weiter hier bei uns, du armer verlassener Klingelbeutel. Vielleicht kommen die Menschen im Laufe der Jahre doch wieder einmal auf dich und all die bereits aussortierten Dinge zurück. Vielleicht geben sie uns dann wieder die gebührende Ehre.“

In diesem Moment schlug die Turmuhr die erste Stunde, schlagartig kehrte wieder Stille ein. Nur die winzigen Schneeflocken fielen weiter durch die kleinen Fenster auf den hölzernen Boden.

Plötzlich schrecke ich aus meinem Schreibtischsessel hoch, war ich etwa eingeschlafen? Leise tickt die große Standuhr in der Ecke. Wie Recht doch die graue Windlade hat! Ich gehe zum Fenster und blicke hinaus über den dunkel schimmernden See. Doch dann gehe ich schnell zurück und beginne, diesen Traum aufzuschreiben.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Weihnachtszeit.

 

Die Weihnachtsgeschichten unseres Autors numiscontrol haben Tradition. Hier finden Sie die Geschichten der letzten Jahre:

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