Eine neue Geschichte der alten Sachsen

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Im Landesmuseum Hannover können Besucher bis zum 18. August 2019 der Geschichte der „Saxones“ nachspüren. Wer sind die Niedersachsen? Nachfahren der „alten Sachsen“, die vor über 1000 Jahren gegen Karl den Großen kämpften? Ihr Name stiftet bis heute Identität – aber wer waren diese Sachsen? Ein germanischer Stamm, der das Land zur Zeit der römischen Kaiser in Besitz nahm und auch noch England eroberte? Die Landesausstellung 2019 erzählt die Geschichte des Landes zwischen Harz und Nordsee im 1. Jahrtausend neu.

Goldbrakteaten aus einem Hortfund von Nebenstedt, Ldkr. Lüchow-Dannenberg, 5./6. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover.

Noch im 4. Jahrhundert war der Name „Saxones“ eine Bezeichnung für Piraten und Seeräuber. Erst seit dem 6. Jahrhundert nennen historische Quellen aus dem Frankenreich auch damalige Bewohner des heutigen Niedersachsen und Westfalen „Saxones“, also „Sachsen“. Das Niedersachsenlied (1926) von Hermann Grote besagt, sie hätten ihr Land bereits gegen den römischen Feldherrn Varus im Jahr 9 n. Chr. verteidigt. Fassbar wird ihre Identität allerdings erst, als sie infolge der fast 30 Jahre andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit Karl dem Großen im 9. Jahrhundert Teil des Frankenreichs wurden und die dortige Oberschicht eigene politische Ambitionen entwickelte.

Römischer Beschlag in der Form eines Mischwesens („Capricorn“) Emlichheim, Ldkr. Grafschaft Bentheim, 1. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover

Nur wenige Generationen nach Karl dem Großen bestieg mit Heinrich I. ein sächsischer Adliger den fränkischen Thron. Ihm folgte sein Sohn Kaiser Otto I., zu seiner Zeit der mächtigste Mann Europas. Im Kloster Corvey schrieb der Mönch Widukind die Geschichte der Sachsen im 10. Jahrhundert und begründete so den Mythos. Seine Erzählung fesselt bis heute und hat lange Zeit Identität gestiftet.

Funde aus dem „Fürstengrab II“ von Marwedel, Ldkr. Lüchow-Dannenberg, 2. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover.

Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse bieten überraschend neue Perspektiven: Archäologen und Historiker haben die Geschichte des 1. bis 10. Jahrhunderts im heutigen Niedersachsen und in Westfalen grundlegend revidiert. Dem beliebten Mythos, die alten Sachsen seien die Vorfahren der heutigen Niedersachsen stellt die Ausstellung „Saxones“ das moderne historische Wissen über die wirkmächtige sächsische Identität des frühen Mittelalters gegenüber.

Solidus aus dem Schatzfund von Lengerich, Ldkr. Emsland, 2. Hälfte 4. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover.

Die bekannte Erzählung von der Eroberung dieser Gebiete durch den germanischen Stamm der „alten Sachsen“ und die angeblich dort praktizierte frühe Demokratie wurden kritisch hinterfragt. Der Mythos entpuppte sich dabei nicht nur als romantisch verklärt, sondern auch als politisch gewollt – und wurde bereits im frühen Mittelalter genutzt, um Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen.

Zierscheibe, Goldfiligrananhänger, Glas-, Amethyst- und Bernsteinperlen sowie Scheibenfibel mit stilisierten Vogelkopfenden aus Grab 105 des Gräberfeldes von Soest, 1. Jh. Foto: LWL-Archäologie für Westfalen / S. Brentführer.

Die Angehörigen der Oberschicht im Land zwischen Harz und Nordsee waren mobil und sehr weit vernetzt. Sie wurden zu Impulsgebern im gesamteuropäischen Geschehen. Gleichzeitig rangen fremde Könige um die Vorherrschaft im Land, verschiedene Kulturen trafen aufeinander. Das Ringen um Macht, Einfluss und Wohlstand in den Regionen wurde dabei nicht mit den Mitteln der Diplomatie geführt: Gewalttätige Auseinandersetzungen, politische Ehen oder erkaufte Loyalitäten waren auch damals übliche Instrumente der Politik. Die Entscheidungen mächtiger Familien stellten die Weichen für die Entwicklung des ganzen Landes.

Goldkette von Isenbüttel, Ldkr. Gifhorn, 7. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover.

Viele hochrangige Zeugnisse des 1. Jahrtausends aus deutschen und internationalen Sammlungen in Großbritannien, Dänemark oder Frankreich bringt diese Schau erstmals zusammen. Die Ausstellung präsentiert umfangreiche Ensembles archäologischer Funde und prominente Einzelobjekte, darunter edler Schmuck und Waffen aus Gräbern, einzigartige Handschriften und königliche Urkunden. Ob wertvoller Schatzfund, prächtige Grabbeigabe oder banaler Alltagsgegenstand: Diese Zeitzeugen geben konkrete Einblicke in das Leben einer Gesellschaft im Schnittpunkt früherer europäischer Kulturräume.

Kelvin Wilson, Widukind, Illustration. Foto: Kelvin Wilson, Ridderkerk (NL).

 

Kelvin Wilson, Germanischer Anführer, Illustration. Foto: Kelvin Wilson, Ridderkerk (NL).

 

 

 

 

 

 

 

Faszinierende Porträts und Szenen in Überlebensgröße lassen an wichtigen Momenten und Ereignissen im Leben von neun Menschen teilhaben, die damals in Niedersachsen und Westfalen lebten. Die farbenprächtigen Bilder stammen aus der Hand von Kelvin Wilson. Seine Werke sind das Ergebnis einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit der archäologisch-historischen Forschung. Seine ausdrucksstarken Illustrationen begegnen ihrem Gegenstand mit Respekt: Im Blickkontakt mit den von ihm mehr porträtierten als rekonstruierten historischen Individuen erlischt die zeitliche Distanz – imaginierte Vergangenheit wird für einen Moment einprägsam erlebte Gegenwart.

Heiligenfibel Stadt Lüneburg, 8./9. Jh. Foto: Landesmuseum Hannover.

„Die Niedersächsische Landesausstellung 2019 folgt den Spuren der Sachsen bis ins frühe Mittelalter und macht historische Ereignisse und Persönlichkeiten der Geschichte lebendig, die für das Verständnis unserer Gegenwart immer noch Relevanz besitzen. Herausgekommen ist eine faszinierende neue Geschichte der Sachsen, deren Wurzeln in Europa und der ganzen Welt liegen. Damit ist die Sachsenforschung auch heutzutage ein europäisches Projekt. Denn wie Dr. Babette Ludowici, Kuratorin der Ausstellung, sagt: „Saxones waren und sind immer die, die dafür gehalten werden. Identitäten sind hochdynamische soziale Konstrukte – auch im 1. Jahrtausend.“

Ein bebilderter Begleitband zur Ausstellung ist im wbg Theiss Verlag erschienen und im Museumsshop erhältlich.

Weitere Informationen über die Ausstellung finden Sie auf der Webseite des Landesmuseums Hannover.

2013 richtete das Landesmuseum Hannover eine dauerhafte Stelle für Provenienzforschung ein.

Die Unterwerfung der Sachsen im späten 8. Jahrhundert durch Karl den Großen wird ebenfalls in der Ausstellung thematisiert.