Numismatisches Tagebuch einer Reise quer durch Griechenland – Teil 12

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von Ursula Kampmann

22. September 2011 – Die letzte Etappe unserer Griechenlandreise führte uns nach Delphi. Doch auf der Heimfahrt wäre es uns beinahe wie Odysseus ergangen, der angesichts der Heimat noch einmal weit abgetrieben wurde…

28. Tag, 9. Juli 2011, Delphi
Es wurde eine ruhige Nacht in den Bergen über Delphi. Völlig erschöpft und mit einem Auto, das bei jeder kleineren Steigung zu kochen drohte, waren wir in Arachova gelandet. Wir hatten endlich ein Hotel gefunden, in dem es so etwas wie Luxus gab. Allerdings arbeiteten in dem Fünfsternhotel nur ein Mann (für den Empfang) und eine Frau (zum Putzen). Mehr brauchte es auch nicht: In dem riesigen Kasten waren nur zwei Zimmer besetzt.

Weihnachtsdekoration hängt in Griechenland das Jahr über. Foto: KW.

Arachova scheint gelegentlich mit dem antiken Anemoreia gleichgesetzt worden zu sein, was sich bis heute nicht durch Funde erhärten ließ. Sicher aber ist, daß die Stadt in den griechischen Befreiungskriegen eine entscheidende Rolle spielte. Hier besiegte 1826 Georgios Karaiskakis ein Heer und baute aus den Köpfen der Erschlagenen eine Pyramide.
Davon ist in Arachova heute nichts mehr zu spüren. Im Sommer ist die kleine Gemeine (2001 zählte man gut 4.000 Einwohner) menschenleer. Im Winter dagegen steppt hier der Bär. Arachova ist ein Zentrum für Skifahrer, die auf dem Parnass ihr Können üben. Unser Hotelier besaß eine Vitrine voller Pokale, die er und seine Schwester beim Skifahren gewonnen hatten. Und unser Zimmer hätte im Winter 450 Euro gekostet (und damit keine Mißverständnisse aufkommen: für das Sommerquartier wurde nur ein Bruchteil dessen verlangt).

Delphi – Blick vom Theater auf Tempel und Schatzhäuser. Foto: KW.

Was soll man über Delphi erzählen? Was man in drei Abschnitten sagen könnte, weiß eh schon jeder oder kann es bei Wikipedia nachlesen. Ich werde die Geschichte des Heiligtums und vor allem die Bräuche, die vor dem Orakel der Pythia üblich waren, einmal an anderer Stelle und ausführlich schildern.

Delphi. Tridrachme, um 475. Zwei Rhyta, darüber zwei Delphine. Rv. Tempeldecke, darin Delphin und Lorbeerzweig. Aus Auktion Leu Numismatik AG 81 (2001), 199.

Bleiben wir beim realen Delphi, das uns mitten hinein in die Welt der Touristen katapultierte. Gefühlt waren Tausende unterwegs. Es gab sogar eine Schlange an der Kasse, wo man den Eintritt in die Grabung zahlte. Das war eine ganz neue Erfahrung für uns, zumindest in diesem Urlaub. Bisher waren wir in allen antiken Stätten in tiefstem Frieden allein gewesen.

Schatzhaus der Athener – man beachte: ohne Menschen. Foto: KW.

Bald standen wir vor dem Schatzhaus der Athener und ärgerten uns, weil schon wieder ein Tourist in unser Foto gelaufen war. Ich glaube, ich stand eine halbe Stunde da, um endlich einen Moment zu erwischen, wo niemand vor diesem prachtvollen Bau stand. In vielen Sprachen hörten wir Führer die Schönheit Delphis preisen. Ihnen hinterher zogen eine Schar Touristen, die sich wegen des steilen Aufstiegs bald in die wohlgemuten, bildungshungrigen und in die entnervt, gelangweilten aufteilten.

Auf der Tempelmauer findet man endlose Inschriften. Foto: KW.

Überall in Delphi stolpert man alle Nase lang über Inschriften, und das erinnert mich an eine Geschichte, die zu schön ist, als daß ich sie mir verkneifen könnte. Sie handelt von einem Epigraphiker, der in Delphi von den Inschriften nicht genug bekommen konnte. Carl Otfried Müller (*1797 in Schlesien) war ein klassischer Altertumswissenschaftler des 19. Jhts: Historiker, Philologe, Archäologe, Epigraphiker und Numismatiker zugleich. Er gehörte zu den bekanntesten Gelehrten in Deutschland, als er 1839 nach Sizilien und Griechenland aufbrach. Man kann sich gut vorstellen, welche Gefühle den Forscher beseelten, als er in Delphi auf all die Inschriften stieß, die unpubliziert herumlagen. Die Sage geht, Müller habe sich, als er eine lange Inschrift verkehrt herum eingemauert in einer Mauer entdeckte, von seinen beiden Freunden abseilen lassen: Die Füße nach oben, um so die Inschrift richtig zu transkribieren. Vielleicht hatte er sich aber auch nur zu lange in der Sonne herumgetrieben. Wie auch immer, Müller erlitt beim Kopieren einen Hitzschlag. Man brachte ihn nach Athen, wo er wenige Tage später starb. Was für ein Schicksal! Allerdings nicht nachahmenswert.

Das Stadion von Delphi. Foto: KW.

Hitzschlag! Ehrlich gesagt, beim Aufstieg in Richtung Stadion konnte ich mir gut vorstellen, wie Müller zumute gewesen sein muß. Aber es lockte eine historische Stätte. Eine Lehrerin vor uns trieb eine ganze Horde mürrischer Internatsschüler aus Rußland vor sich her, die auf bunten T-Shirts den Namen ihrer Schule verkündeten. Und endlich waren wir da, zusammen mit höchstens 200 anderen Touristen. Was ein Problem darstellte, denn das Stadion ist mittlerweile abgesperrt. Nur ganz hinten gibt es einen Platz, von dem aus man noch hineinsehen kann, wenn man sich eng an die dort niedere Mauer preßt. Was ungefähr 200 Leute versuchten – mit vorhersehbarem Resultat. Das Foto ist entstanden, indem ich den Arm nach links ausgestreckt habe. Mein Foto hat das Stadion viel besser gesehen als ich. Wenn Sie das nächste Mal in Delphi sind, sparen Sie sich den Aufstieg. Er ist es nicht (mehr) wert.

Kleobis und Biton. Foto: KW.

Ganz im Gegensatz zu dem großartigen Museum von Delphi. Das müssen Sie unbedingt sehen. Es gehört zum Schönsten, was Griechenland zu bieten hat. Und da spreche ich jetzt noch nicht einmal von so berühmten Statuen wie dem Kunstwerk des Polymides aus Argos, der die Brüder Kleobis und Biton verewigte. Ihre Mutter soll zu den Göttern gebetet haben, ihren beiden vollkommenen Söhnen das Beste zu gewähren, was die Götter zu geben hätten. Und da habe Hera den beiden sofort einen sanften Tod geschenkt.

Odysseus unter dem Widder. Foto: KW.

Mein Liebling war noch nicht einmal 12 cm groß. Es handelte sich um eine kleine Applike, die Odysseus zeigt, wie er unter den Widder gebunden aus der Höhle des Polyphem flieht.

Titus Quinctius Flamininus. Foto: KW.

Natürlich gab es auch jede Menge für uns Münzfreunde. So ein Porträt, das man anhand der Darstellungen auf Münzen als das des Titus Quinctius Flamininus identifizierte, des Mannes, der 196 v. Chr. bei den Isthmischen Spielen die Autonomie der Griechen erklärte.

Monument des Aemilius Paullus. Foto: KW.

Oder das Monument des Aemilius Paullus, das dieser nach seinem Sieg über die Makedonen in Delphi errichten ließ. An den Seiten sind Szenen aus der Schlacht von Pydna abgebildet.

Der Wagenlenker. Foto: KW.

Und auch der Wagenlenker von Delphi sollte uns von Münzen wohl vertraut sein. Er (oder ein Kollege) ist auf den Vorderseiten der gleichzeitigen Münzen von Gela abgebildet (hier allerdings mit Gespann). Der Tyrann Polyzalos von Gela, der 478 an die Macht kam, stiftete ein Standbild der siegreichen Quadriga nach seinem Triumph im Wagenrennen. Überlebt hat nur der Wagenlenker, weil er bei einem Erdrutsch begraben und so nicht wie viele Statuen zur Waffenproduktion eingeschmolzen wurde.

Reste eines Goldelfenbeinstandbild. Foto: KW.

Es ist schwer, sich ein Bild von den Kompositstatuen der Antike zu machen, wenn man immer nur den blassen Marmor sieht. Wie gut, daß sich in Delphi die Köpfe einiger weniger archaischer Goldelfenbeinstatuen erhalten haben. Auch wenn die originalen Farben kaum mehr zu erkennen sind, gibt die Vielfalt der Materialien doch einen guten Eindruck davon, daß die Antike sicher nicht klassisch, sondern farbenfroh und kitschig war.

Standbild des Plutarch. Foto: KW.

Jetzt hätte ich doch beinahe Plutarch vergessen. Von ihm zeigt man im Museum von Delphi ein Porträt, das vielleicht mit ihm in Verbindung gebracht werden kann. Nutzen wir die Gelegenheit, hier an einen derjenigen zu denken, die zur Zeit der Renaissance die Antike in Europa bekannt und beliebt gemacht haben. Seine Parallelbiographien prägten das Antikenbild von Millionen von Menschen (und wenn ich die Kommentare lese, die ich zu meinen gelegentlich etwas frechen Artikeln bekomme, tun sie das heute noch).
Plutarch stammte aus Chaironeia und lebte ungefähr von 45 bis 125 n. Chr. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in seiner Heimat und übte dort eine Reihe von Ämtern aus. So war er zum Beispiel einer der Apollonpriester von Delphi.

Kastalische Quelle. Foto: KW.

Außerhalb des Heiligtums kommt man an der Kastalischen Quelle vorbei. Ihr Name erinnert an eine der zahlreichen unwilligen Liebschaften des Apolls. Diese Nymphe verwandelte sich zur Abwechslung nicht in einen Lorbeer, sondern stürzte sich in die Quelle, ehe Apoll sie vergewaltigen konnte. Für die Pilger spielte die Kastalische Quelle eine wichtige Rolle im Reinigungszeremoniell vor dem Betreten des Heiligtums.

Das Heiligtum der Athena. Foto: KW.

Wie heißt es schon schön in Sizilien: Am Mittag gehen nur Esel und Engländer in die Sonne. Wir wollten uns nicht zu dieser Gruppe zählen müssen, so daß wir das Athena-Heiligtum von Delphi nur von oben betrachteten. Wie übrigens 99,99 % aller Delphi-Besucher. Während die Gassen des Heiligtums so voll sind wie eine Fußgängerzone im Schlußverkauf, ist das Athena-Heiligtum leer. Was schade ist, denn auch dort gibt es Tempel, Schatzhäuser und eine elegante Tholos.

Ja, und damit wären wir hinsichtlich der Fotos am Ende, aber ich möchte nicht versäumen, unsere aufregende Rückreise zu schildern, bei der wir – so ganz nebenbei – den ersten Tag des neuen Hafens von Patras erlebten.

30. Tag, 11. Juli 2011 – Griechische Organisation
Wir waren am Tag der Abreise früh dran. Schließlich plagte uns die Angst, unser Auto könnte uns im Stich lassen (tatsächlich standen wir ungefähr gleich lang, um den Motor abzukühlen wie wir brauchten, um die 125 km von Delphi nach Patras zurückzulegen). So saßen wir bereits um 15.00 in der gekühlten Wartehalle des Hafens und gedachten, bis zur Abfahrt des Schiffs kurz vor Mitternacht zu lesen und uns von den Anstrengungen der Fahrt zu erholen. Direkt vor uns lag bereits das Schiff, mit dem wir zurück nach Venedig fahren würden.
Ich gebe zu, mich packte die Nervosität, als etwa um 18.00 das Schiff seinen Ankerplatz verließ. Außerdem hatte kein Schalter geöffnet. Auskunft? Nach griechischer Auffassung nur was für Schwächlinge. Jedenfalls war die Information ebenfalls unbesetzt.
Wir beschlossen, die Hafeneinfahrt für Autos zu suchen. Es war immer noch glühend heiß, als wir losmarschierten. 10 Minuten, eine halbe Stunde, eine dreiviertel Stunde, nein, immer noch keine Einfahrt. Endlich entdeckten wir eine Lücke im Zaun. Wir schlüpften durch. Nun waren wir auf dem Hafengelände, das ebenso Auskunftsfreie Zone war wie der Passagierterminal. Nach einem weiteren Fußmarsch sahen wir eine Art Polizist. Ob er Englisch spräche? Nun ja, ein bißchen. Wo die Einfahrt für Autos sei? Oh, ja da seien wir vollständig falsch, dies sei der alte Hafen! Wir müßten zum neuen Hafen etwa acht Kilometer weiter gerade aus.
Mein Gott, kamen wir uns dumm vor. Wir nahmen also unser Auto, fuhren zum neuen Hafen und gerieten in ein völliges Chaos. Nun, eigentlich nicht, weil so viel los war. Wir waren immer noch sehr früh dran. Das Chaos war eher in der Spurführung begründet, die keine Anhaltspunkte gab, welche man nun zu benutzen hatte. Irgendwann kam ich auf die schlaue Idee, die zu nehmen, die von einem Mann bewacht wurde. Wenn wir falsch waren, würde er uns schon wegweisen. Wir waren falsch, und er wies uns weg. Wo wir denn hinmüßten? Englisch sprach er nicht, aber seine Geste zeigte eindeutig in die andere Richtung. Also nutzten wir die touristische Schwarmintelligenz und parkten dort, wo die meisten Autos parkten. Sehr intelligent! Tatsächlich war hier die Agentur, in der wir unsere Fährentickets rückbestätigen lassen konnten. Ich stand gut 20 Minuten völlig allein vor dem Schalter, während die Schalterbeamtin eifrig in ihrem Computer den Stein der Weisen suchte. Endlich gelang es mir, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie blickte mich hochmütig an und meinte, ich müsse mich schon gedulden, schließlich sei heute der erste Tag, an dem der neue Hafen benutzt werde.
Nun kam ich mir nicht mehr ganz so dumm vor. Die Griechen hatten den Hafen nicht schon vor Ewigkeiten, sondern heute verlegt, natürlich ohne den Touristen irgendetwas davon mitzuteilen. Warum denn auch? Es handelte sich ja zum größten Teil um deutsche Touristen.
Ich kann mich noch gut an eine Episode in Kambodscha erinnern, als ich mich für genau diese Eigenschaft in Grund und Boden schämte. Wir steckten mit flachen Booten im Sumpf fest. Einheimische zogen uns alle paar Minuten aus dem Schlamm. Und in dieser Situation übernahm ein (deutscher) Mitreisender das Kommando. Natürlich gelang es ihm auch nicht besser, die Boote voranzubringen, aber alle anderen aus der internationalen Reisegruppe lachten darüber, daß sich „der Deutsche“ sofort verantwortlich gefühlt hatte.
So auch in dieser Situation. Allerdings lachte da niemand. Sofort bildete sich ein informelles Notstandskomitee, das dafür sorgte, daß ein Tourist, der mehrere Sprachen sprach, im alten Hafen blieb, um Mitreisende auf die Verlegung des Abfahrtsorts aufmerksam zu machen. Ein anderer hatte seinen Wagenschlüssel und sorgte dafür, daß sein Auto auf die Fähre kam, während er bis zuletzt ausharrte, um all die verirrten Seelen zum rechten Ort zu geleiten.
Ich weiß nicht, ob alle die Fähre erreichten. Ich halte es für wahrscheinlich, was allerdings nicht an der griechischen Organisation lag. Später hörte man gerüchtehalber, es habe ein kopiertes Blatt in englischer Sprache gegeben, das ursprünglich auf dem Tisch des Informationsschalters gelegen habe, aber irgendwann hinter den Tresen gefallen sei.

Wie auch immer. Ich denke, dieser letzte Blick auf den neuen Hafen von Patras ist ein gutes Bild dafür, was die Krise in Griechenland ausmacht. Sie ist nicht mit noch mehr Geld zu beheben. Eine Mentalitätsänderung täte Not, aber die ist innerhalb so kurzer Zeit nicht zu erreichen.
Ich möchte hier keinen meiner griechischen Freunde beleidigen. Ich habe in dem Monat viele nette, hilfsbereite, engagierte und vorausschauende Menschen kennengelernt. Aber sie alle schienen sich anderen Griechen gegenüber zu sehen, die nicht bereit waren, effizient zu sein und planend zu handeln. Tourismus ist eben nicht nur ein Bauen von modernsten Museen, sondern auch ein Planen der Infrastruktur. Ein Tourist braucht nicht nur etwas zum Ansehen, sondern auch ein nettes Café, ein modernes Hotel. Es lohnt nicht, könnte man sagen, weil ja keine Touristen kommen, aber sie kommen auch nicht, weil sie nicht das vorfinden, was sie gewohnt sind. Etwas mehr Planungssicherheit hinsichtlich von Öffnungszeiten, etwas mehr Komfort bei Unterbringung und Essen, und vor allem entscheidend mehr Werbung könnte Griechenland neben den Badetouristen die wesentlich spendableren Bildungstouristen bringen, um die Spanien, Italien und die Türkei bereits seit vielen Jahren buhlen.

Ich weiß, es gilt als unfein und typisch deutsch, belehrend den Zeigefinger zu heben. Aber ich liebe Griechenland! Es liegt mir am Herzen! Ich möchte, daß dieses Land aus der Krise findet und einen blühenden Tourismus aufbaut, der alle daran Beteiligten gut nährt. Und ich hoffe, daß meine griechischen Freunde diese offenen Worte in diesem Sinn verstehen.

Auf jeden Fall, danke Griechenland für die wunderschönen Tage, die ich hier erleben durfte.

ENDE

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