von Ursula Kampmann
30. Juni 2011 – Auf ihrer zweiten Etappe durch Griechenland watet Ursula Kampmann durch den eiskalten Unterweltfluss Acheron, besucht das Reich der Toten und die alte Eiche von Dodona. Dort führt sie uns ein in die Welt der antiken Orakel…
5. Tag, 14. Juni 2011, am Eingang zur Unterwelt
Ein Fluß durchquert den Epirus, den alle Griechen kannten, der Acheron, die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten, über den Charon mit seinem Nachen die frisch Verstorbenen führt. Im Epirus findet man – jedenfalls wenn wir den Dichtern und Archäologen glauben wollen – den Eingang zu dieser Unterwelt. Die Dichter haben das Nekromanteion beschrieben, eine Orakelstätte, wo die Griechen mit ihren Verstorbenen in Kontakt treten konnten. Und die Archäologen sind der festen Überzeugung, daß sie dieses Nekromanteion im Mündungsgebiet des Acheron gefunden haben.
Wir machen uns von Parga auf, um den Eingang zur Unterwelt zu finden.
Das Nekromanteion liegt in einer fruchtbaren Schwemmlandebene am Fuße von Bergen. Foto: KW.
Dies ist leicht zu bewältigen. Das Nekromanteion ist eine gut ausgeschilderte und gerne besuchte Sehenswürdigkeit, die etwas Abwechslung vom Sonnenbad verspricht. Und wer bekommt keine leichte Gänsehaut, wenn die Rede ist von Kontakten mit den Toten?
Bereits Herodot (V, 92) kannte übrigens das Nekromateion. Er ließ hier eine Geschichte spielen, die den korinthischen Tyrannen Kypselos (dessen Sohn das nahe Ambrakia gegründet hatte) im ungünstigsten Lichte zeigt. Dessen gerade verstorbene Frau Melissa hatte einen Schatz an einem Ort versteckt, den sie vor ihrem Tod ihrem Mann nicht mehr mitteilen konnte. So ließ Kypselos im Nekromanteion anfragen, wo er denn suchen solle. Doch Melissa war sauer. Man habe ihre teuren Kleider nicht mit ihr verbrannt, so daß sie jetzt in der Unterwelt frieren müsse. Als Beweis für die Wahrheit ihrer Aussage erinnerte sie Kypselos daran, daß er „das Brot in einen kalten Backofen geschoben“ habe, sprich, daß er die Tote noch – wie sagt man das auf vornehme Art und Weise? Nun ja, Sie wissen schon.
Kypselos jedenfalls glaubte sofort, daß dieses Orakel mit der Stimme der Toten sprach. Er ließ sämtliche vornehmen Frauen in den Palast kommen und sorgte dafür, daß sie ausgezogen wurden. Natürlich nur, um sich so ohne großen finanziellen Aufwand genügend vornehme Kleider zu verschaffen, um seine Frau zufriedenzustellen. Und tatsächlich: bei seiner zweiten Anfrage ließ ihm Melissa mitteilen, wo der Schatz zu finden sei.
Der Eingangsbereich des Nekromanteion. Foto: KW.
Nicht alle Besucher des Nekromanteions werden so konkrete Anliegen an das Orakel gehabt haben wie Kypselos. Der Tod eines Menschen kommt ja oft überraschend, so viel ist noch nicht ausgesprochen und ein Ort, an dem man dies nachholen kann, wird vielen Menschen Trost geboten haben. Schließlich galt in der Antike die Welt der Lebenden und der Toten nicht als so scharf getrennt wie heute. Immer wieder übertraten die großen Heroen der Sagen und Legenden diese Grenze.
Kontinuität des Ortes: Das Nekromanteion wurde unter einer Friedhofskirche des 18. Jahrhunderts gefunden. Foto: KW.
Besonders eindrücklich ist die Schilderung der Odyssee, in der berichtet wird, wie sich Odysseus den Toten nahte. Vielleicht dürfen wir uns das, was im Nekromanteion vor sich ging so oder so ähnlich vorstellen:
„…Ich (Odysseus) aber zog von der Hüfte das scharfe Schwert und grub
Ein Loch, eine Elle nach hierhin und dorthin,
Und groß ringsherum die Spende für alle Toten,
Erst mit Honiggemisch, mit süßem Weine danach dann,
Drittens mit Wasser, und streute dann helle Gerste darüber…
Dann ergriff ich die Schafe, und über die Grube sie haltend,
Schnitt ich die Kehlen durch, und das Blut, das schwarze verströmte,
Da versammelten sich aus der Tiefe die Seelen der Toten …
Deren viele umschwärmten die Grube von hier- und von dorther
Mit unendlichem Schreien; da packte mich bleiches Entsetzen.
Da trieb ich die Gefährten, gebietend, sie sollten die Schafe,
Die am Boden schon lagen, vom grausamen Erze geschlachtet,
Abgehäutet verbrennen und beten dabei zu den Göttern.
Vielleicht spiegelt sich in diesem Verhalten eine ähnliche Zeremonie, wie sie von den Besuchern des Nekromanteion noch Jahrhunderte später ausgeübt wurde.
Eingangsbereich des Nekromanteion. Foto: KW.
Die Besucher durchschritten zunächst einen engen Gang. Links davon lagen Vorratsräume sowie ein Gemach, in dem rituelle Waschungen vorgenommen werden konnten. Wir müssen uns alles überdacht vorstellen, duster, im flackernden Schein von Fackeln, die vielleicht sogar mit Stoffen versetzt waren, die Einfluß hatten auf die Wahrnehmung der Besucher.
„Labyrinth“. Foto: KW.)
Irgendwann wird der Besucher die Orientierung verloren haben, denn der überdeckte Gang führte nicht nur geradeaus, sondern machte eine ganze Reihe von Biegungen nach rechts und links.
Eingang zum zentralen Kultsaal. Foto: KW.
Endlich standen die Hilfesuchenden vor der großen Bronzetüre, die den Eingang zum zentralen Kultsaal verschloß.
Der zentrale Kultsaal. Foto: KW.
Hier fanden die wichtigsten Zeremonien statt. Damals dürfte kein Licht von außen eingedrungen sein. Die mystische Stimmung, halluzinogene Stoffe, Gesänge, die Gebete der Priester, sie machten den Gläubigen bereit, die Stimmen der lieben Verstorbenen wahrzunehmen.
Vorratsräume für Votivgaben? Foto: KW.
Orakel leisteten in der Antike das, was heute Psychotherapeuten tun: Sie halfen den Menschen, eine Entscheidung zu treffen bzw. schreckliches Geschehen als unvermeidlichen Willen der Götter zu akzeptieren und so weiterzuleben. Für diese Hilfe revanchierten sich die Gläubigen mit reichen Gaben. Vielleicht war in den Seitenräumen des zentralen Kultsaals Platz dafür.
Untergeschoß. Foto: KW.
Einige Archäologen nehmen an, daß die Priester zur Unterstützung der Opferbereitschaft kräftig mitmischten, indem sie mittels Bühnenaufzügen, doppeltem Boden und Sprachrohren dafür sorgten, daß auch der ungläubigste Thomas Stimmen hören konnte.
Tja, das sagt ein Teil der Archäologen. Der andere Teil behauptet, daß das wahre Nekromanteion noch gar nicht gefunden sei, und die bisherigen Ausgrabungen lediglich einen befestigten Gutshof freigelegt hätten, dessen absonderliche architektonische Details genauso gut mit den Anforderungen der Vorratshaltung erklärt werden könnten.
Ich persönlich bin der festen Auffassung, daß wir das Nekromanteion besichtigt haben. Erstens ist das viel romantischer als so ein gewöhnlicher Gutshof; und zweitens haben sich uns tatsächlich drei Schlangen im heiligen Bezirk gezeigt. Und jeder weiß doch, daß die Schlange der Bote zur Unterwelt ist! Oder etwa nicht?
Der Totenfluß: Acheron. Foto: KW.
Wie auch immer, eine relativ neue Touristenattraktion sind die Quellen des Acheron, die ziemlich gut ausgeschildert sind, so daß man leicht den Weg dorthin findet.
Wie gesagt, der Acheron gehörte der Überlieferung nach zu den fünf Flüssen der griechischen Unterwelt und konnte synonym mit dem Wort Hades verwendet werden. Hier wird – genauso wie am geographisch nicht näher lokalisierten Styx – die Überfahrt ins Totenreich lokalisiert.
Die Quellen des Acheron. Foto: KW.
Auch wenn die beiden richtigen Quellflüsse des Acheron wesentlich weiter oben in den Bergen entspringen, wurden in der Antike die Frischwasserquellen bei der kleinen Ortschaft Glyki als Eingang zur Unterwelt verstanden. Die hat ihren Namen von einer alten Heiligenlegende. Das Wasser des Acheron soll nämlich ursprünglich als das eines Unterweltsflusses giftig gewesen sein. Doch ein Heiliger erbarmte sich der Bevölkerung und machte aus dem giftigen Wasser süßes – „glykos“ – Wasser.
Auch heute noch wirken die sprudelnden Quellen, als käme das Wasser hier direkt aus dem Inneren der Erde.
Acheron. Foto: KW.
Es ist eiskalt.
Acheron. Foto: KW.
Die besten Grüße vom Eingang zur griechischen Unterwelt!
6. Tag, 15. Juni 2011, wo die Eiche den Willen des Zeus verkündet
Wie uns das Nekromanteion gezeigt hat: Es gab viele Orakel in der antiken Welt. Das von Delphi ist lediglich das bekannteste. Im Norden mindestens genauso wichtig war Dodona, das wir heute besuchten.
Der heilige Bezirk für Zeus in Dodona. Foto: KW.
Dodona liegt höchst malerisch inmitten einer eindrucksvollen Berglandschaft. Die Anreise verläuft heute dank der „Egnatia“ höchst unkompliziert. Man darf sich sogar über einen eigenen Wegweiser freuen, der an der Autobahnausfahrt auf die nur wenige Kilometer entfernt gelegene Grabung hinweist.
Schon Homer erwähnte das Orakel von Dodona immer wieder, und eine Version der Argonautensage berichtet, daß Athena der Argo ein Stück Holz von der heiligen Eiche einfügte, um so dem Schiff prophetische Kräfte zu verleihen.
Die heilige Eiche. Foto: KW.
Die heilige Eiche war das Zentrum von Dodona, das zu den nicht allzu seltenen griechischen Heiligtümern gehört, das keinen „richtigen“ Tempel hat. Priesterinnen, die als Peleiades (= Tauben) bezeichnet wurden, entnahmen dem Rauschen der Eiche sowie dem Ruf und dem Flug der hier nistenden Tauben die Antwort auf die Fragen der Gläubigen. Später kamen noch weitere Praktiken hinzu wie das Losorakel und die Deutung des Klangs eines Gongs.
Bleitäfelchen mit der Anfrage an das Orakel. Museum Ioannina. Foto: KW.
Die Anfragen wurden auf Bleiplättchen festgehalten, von denen eine große Anzahl bei der Ausgrabung zum Vorschein gekommen ist. Sie sind heute nicht vor Ort, sondern im archäologischen Museum von Ioannina zu sehen.
Sie zeugen von menschlich-allzu-menschlichen Sorgen. Hier ein paar Beispiele: „Kleoutas fragt Zeus und Dione, ob Viehzucht für ihn vorteilhaft und einträglich ist.“ „Es fragt Lysanias den Zeus Naios und die Dione, ob das Kind, das Nyla erwartet, von ihm stammt oder nicht.“ „Nikokrateia möchte wissen, welchem Gott sie Opfer darbringen soll, um gesund zu werden und ihre Krankheit zu verlieren.“ „Die Stadt Mondaiatai fragt Zeus Naios und Dione hinsichtlich des Geldes von Themisto, ob sie es sich leisten kann und ob es richtig ist, ihr das Darlehen zu gewähren.“
Koinon des Epirus. Didrachmon, 234-168. Büste des Zeus von Dodona und der Dione. Rv. Stier stößt r. Franke 4. Aus Auktion Künker 94 (2004), 774.
Neben Zeus wurde in Dodona eine ganze Reihe von anderen Gottheiten verehrt. Die wichtigste von ihnen war Dione, die ihren Ursprung wohl in einem alten Kult für eine Erdgöttin hat.
Plan des heiligen Bezirks. Foto: KW.
Man schreibt ihr eines der zahlreichen Gebäude gleich in der Nähe des heiligen Hauses für Zeus zu. Da sie als Mutter der Aphrodite galt, will man in den Überresten eines anderen kleinen Tempels eine Anlage zu Ehren dieser Göttin erkennen.
Pyrrhos in Lokroi Epizephyrioi (Bruttium). Kopf des Zeus von Dodona. Rv. Dione n. l. thronend. Aus Auktion Numismatik Lanz 132 (2006), 39.
Das Orakel stand bis zum Beginn des 4. Jh. v. Chr. unter dem Einfluß der Thesproter, einem Stamm, der zwischen Ioannina und Dodona siedelte. Unter Pyrrhus änderte sich dies. Der schaffte es mit ptolemäischer Hilfe im Jahr 297 sein Königreich Epirus zurückzuerobern. Er machte Dodona zum zentralen Heiligtum seines Königreichs. Hier befragte er das Orakel, als er zu seinem großen Unternehmen in Unteritalien aufbrach.
Rekonstruktion des heiligen Haus des Zeus. Foto: KW.
Auf Pyrrhos geht die Ausgestaltung des heutigen heiligen Hauses für Zeus zurück. Er umgab die wahrsagende Eiche und das kleine Schatzhaus mit einer hohen Mauer, die sich nach innen zu einer Säulenhalle öffnete.
Das heilige Haus mit der Eiche. Foto: KW.
Die Eiche, die heute mitten im heiligen Haus steht, ist natürlich nicht mehr original. Aber der Platz stimmt, denn bei der Ausgrabung konnte eine Bodenverfärbung nachgewiesen werden, wie sie nur ein großer Wurzelstock hervorrufen kann, der ausgegraben wurde. Dies scheint 391 n. Chr. geschehen zu sein, als bei der Zerstörung des Heiligtums durch fanatische Christen die heilige Eiche nicht nur gefällt, sondern in einem symbolischen Akt mit dem Wurzelstock beseitigt wurde.
Koinon von Epirus. Drachme, um 210 v. Chr. Kopf des Zeus n. r. Rv. Adler auf Blitzbündel, alles in Eichenkranz. Franke 32-91. Aus Auktion Gorny & Mosch 191 (2010), 1394.
Nach dem Tod des Sohnes von Pyrrhos, Alexander, im Jahr 242 v. Chr. gründeten die Politiker des Epirus ein Koinon, dessen Bundesversammlung und Beamten in Dodona und Phoinike tagten. Zahlreiche Bauten in Dodona zeugen von den politischen Aktivitäten des Bundes.
Das Prytaneion. Foto: KW.
So zum Beispiel das Prytaneion, in dem die Prytanen als oberste Exekutive die Geschäfte der Epirotischen Liga führten. Die Ruine direkt gegenüber im Gelände haben die Archäologen mit dem Bouleuterion identifiziert, wo die Boulé, der Rat der Liga zusammentrat.
Das Theater von Dodona. Foto: KW.
Die Bundesversammlung tagte im ursprünglich von Pyrrhos erbauten Theater von Dodona. Schließlich dienten die meisten Theater der antiken Welt nicht nur kulturellen Zwecken, sondern auch politischen. Heute finden hier übrigens im Sommer sehr eindrucksvolle Theateraufführungen statt.
Das Theater beherrscht die Ruinen von Dodona, die man in etwa einer Stunde ausführlich besichtigen kann. Sie sind sehr gut erschlossen, denn EU und griechischer Staat haben hier Geld investiert, so daß es nicht nur den Luxus eines richtigen gepflasterten Parkplatzes und eines kleinen Cafés gibt…
Man muß den Schatten nutzen, wo man ihn findet. Foto: KW.
… sondern auch den Luxus von gepflegten Toiletten, die nicht nur den Menschen nützlich sind.
Und damit erst einmal genug. Versäumen Sie es nicht, nächste Woche weiterzulesen. Wir besuchen Katerini Liampi in Ioannina und begeben uns in das Zentrum der Macht Philipps II. von Makedonien.
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