von Ursula Kampmann
1. März 2012 – Es gibt wenige Bilder, die sich einem so einbrennen, wie die großen Köpfe der zerbrochenen Monumentalstatuen vom Nemrut Dagh. Aber wir haben auf unserem Weg dorthin noch vieles andere gesehen: wundervolle Berglandschaften, eine großartige Brücke aus römischer Zeit und viele freundliche Menschen.
22. Juni 2009
In Urfa warten kleine Reisebüros ständig auf Touristen, die gerne auf den Nemrut Dagh wollen. Auch wir hatten eines gefunden und für den nächsten Tag die volle Tour gebucht, denn einfach auf den Nemrut Dagh, damit speisen einen die lokalen Führer nicht ab. Man hat keine Wahl, man muss jede Sehenswürdigkeit auf dem Weg abgrasen, damit man pünktlich zum Sonnenuntergang hoch über dem Rest der Welt auf dem Nemrut steht.
Jussuf zeigt uns seine Heimat – und das mit viel Humor. Foto: KW.
Punkt neun holte uns unser Fahrer Jussuf ab. Auf dem Weg machten wir zahlreiche Pausen, um die verschiedenen Gewächse zu bestaunen. Wir kamen an unendlichen Plantagen mit Pistazienkulturen vorbei. Wir lernten, dass ein Pistazienbaum rund 30 Jahre braucht, um eine gute Ernte zu bringen. Wir sahen Traubenkulturen – nicht für Wein, sondern für Speisetrauben. Sie ähneln unseren Weinstöcken überhaupt nicht, denn sie werden nicht beschnitten, sondern wachsen als bodennahe Büsche.
Kichererbsen direkt aus der Schale. Ein echter Leckerbissen. Foto: KW.
Besonders delikat waren die Kichererbsen, die man direkt vom Strauch essen kann.
Am Damm des Atatürk-Staudamms. Foto: KW.
Unsere erste Station war der Atatürk-Stausee. Uns ist das gewaltige Projekt, zu dem diese Anlage gehört, in erster Linie deshalb bekannt, weil ihm einige bedeutende antike Grabungen zum Opfer gefallen sind. So ist hier zum Beispiel die alte Stadt Samosata verschwunden, die Residenz der Könige von Kommagene, vielleicht noch bekannter, weil der Spötter Lukian hier das Licht der Welt erblickte.
Gallien. Antoninian, Samosata, 255-256. Rv. Gallien und Valerian opfernd. RIC 446. Aus Auktion Gorny & Mosch 186 (2010), 2241.
Samosata war auch in der Spätantike ein bedeutender Ort. An dieser militärisch wichtigen Straßenkreuzung war die Legio VI Ferrata und die Legio XVI Flavia Firma stationiert. Hier ließ Iulian seine Flotte bauen, die er gegen die Sasaniden den Euphrat hinaufschickte. Was in Samosata versunken ist, wissen wir nicht. Doch die prachtvollen Mosaike aus Zeugma, die wir in Gaziantep bewundert haben, mögen einen Hinweis geben. Zeugma fiel übrigens nicht dem Atatürk-Staudamm zum Opfer, sondern einem zweiten Staudamm weiter westlich.
Das System von 22 Staudämmen und 19 Wasserkraftwerken soll nämlich die reichen Mengen an Schmelzwasser, die im Frühjahr von den Gebirgen fließen, aufhalten und dazu nutzen, die Region zu einem blühenden Garten zu machen. Das Projekt nennt sich GAP, eine Abkürzung für Güneydogu Anadolu Projesi (= Südostanatolien-Projekt) und hat die einstigen Staubwüsten in blühende Gärten verwandelt.
Tatsächlich haben Städte wie Gaziantep und Urfa dadurch einen gewaltigen Aufschwung genommen. Die landwirtschaftliche Produktion hat sich vervielfacht, Es bleibt die Frage, ob diese Entwicklung von Dauer ist, oder ob die Kritiker Recht behalten, die behaupten, die künstliche Bewässerung würde die Böden auslaugen und zu Erosion und dem Rückgang der Ernten führen. Dass die Nachbarstaaten, die auf die Wasser von Euphrat und Tigris angewiesen sind, das Projekt mit höchster Skepsis betrachten, ist nicht verwunderlich.
Denkmal für die Erbauer des Staudamms. Foto: UK.
Wie auch immer, wir saßen in einer Teestube am Rand des Staudamms, blickten auf die blauen Wasser des Euphrats (zumindest dessen, was davon nach dem Stauen übrig blieb) und lasen das Motto Atatürks in Großbuchstaben auf dem Damm: Ne mutlu Türkum diyene – wie stolz bin ich, ein Türke zu sein. Unser Jussuf konnte einiges erzählen, auch wenn ich diese Zahlen natürlich aus meinem schlauen Büchlein abschreibe: 800 Quadratkilometer misst der Stausee, wenn er voll ist. 882.000 Hektar Land können damit bewässert werden. Seit der Fertigstellung des Damms 1995 haben sich die Erträge der bewässerten Felder verdreifacht.
Den großen Zeh im kalten Euphrat. Foto: KW.
Unser nächster Halt war der Euphrat. Schließlich hatte ich in meiner Info über meinen Urlaub an all meine Kunden geschrieben, ich sei in die hinterste Türkei gefahren, um meinen großen Zeh in den Euphrat zu tauchen. Das tat ich nun unter großem Gelächter der anwesenden Dorfjugend. Das Wasser war übrigens eiskalt!
Adlersäule vor Grabhügel. Foto: KW.
Um die Mittagszeit hatten wir unser erstes Ziel erreicht, Karakusch, ein Grabmal, das König Mithradates II. von Kommagene für seine Mutter und andere weibliche Angehörige des Königshauses errichten ließ. Die Grabkammer, die es irgendwann einmal gegeben haben muss, soll bereits im 1. Jh. n. Chr. ausgeraubt worden sein. Wir standen vor einem gewaltigen Grabhügel, den einige hohe Säulen umgaben. Die besterhaltene zeigte einen Adler. Noch spektakulärer war allerdings die Aussicht!
Römische Brücke. Foto: KW.
Der nächste Halt war die Cendere-Brücke, eine Brücke aus römischer Zeit, genauer gesagt erbaut unter Septimius Severus. Seit knapp 2.000 Jahren haben sie Kamele und Esel, Menschen und Autos überquert, bis eines Tages ein Tanklastwagen darüber brummte, der ihr zu schwer wurde. Die Brücke stürzte ein; man restaurierte sie; und heute dürfen nur noch Fußgänger passieren. Von den ursprünglich vier Säulen für Kaiser, Kaiserin und die beiden Söhne stehen nur noch drei. Die für Geta verfiel der Damnatio Memoriae.
Wenn ich in 30 Jahren an diese Brücke denken sollte, dann wird sie mir wohl in erster Linie wegen der Hitze in Erinnerung bleiben. Es war etwa halb drei, die heißeste Zeit. Ich verzog mich in den Schatten und wurde zu einem Tee eingeladen. Ich habe mich gut mit meinem Gastgeber unterhalten. Er fragte, wie viele Kinder ich habe. Das Spiel konnte ich mitspielen. Ich sprach voller Stolz von meinen vier Söhnen („alle Piloten bei der Swiss“). Er ist vor Ehrfurcht fast in den Boden versunken. Er war sehr nett, aber trotzdem, was für eine Vorstellungswelt, in der eine Frau nur auf ihre Söhne stolz sein darf, und ihre eigene Leistung nichts zählt!
Die mamelukische Festung Yeni Kale. Foto: UK.
Dann ging es nach Yeni Kale, einer Burgruine aus dem 13. Jahrhundert. Der deutsche Archäologe Friedrich Karl Dörner hat über sie geschrieben und dort eine Brieftaubenstation entdeckt, die der Nachrichtenübermittlung gedient haben mag. Früher stieg man von Yeni Kale aus über unbequeme Pfade in 6 bis 7 Stunden auf den Nemrut Dagh. Heute traten wir als zahlende Gäste in den Streik, als Jussuf vorschlug, wir sollten über eine steile Felsentreppe hinauf zur Ruine wandern.
Eine Inschrift. Und ihr Inhalt ist vermutlich wahnsinnig interessant. Foto: KW.
Es war heiß. Alles an uns klebte, aber es ging weiter, und zwar zur Sommerresidenz der kappadokischen Könige, nach Arsameia. Ich gebe zu, es ging allmählich an die Substanz. Wenn selbst wir uns nur noch nach Schatten und Wasser sehnten, wie langweilig müssen all diese alten Steine erst für Menschen sein, die sich nicht für die Antike interessieren! Dazu fehlte vor Ort jegliche Information, die das Gesehene ein wenig mit Leben hätte füllen können. Jussuf lief im Dauerlauf rauf, und ich wollte nur noch runter. Die Aussicht war ja traumhaft, aber Wasser und Schatten wären mir lieber gewesen!
Tunneleingang in einer Felswand voll mit Inschriften: Foto: KW.
Arsameia am Nymphaios wurde im 3. Jahrhundert von Arsames gegründet und nach ihm benannt. Hierher soll im Jahr 235 v. Chr. der Seleukide Antiochos Hierax während der Auseinandersetzung mit Seleukos II. geflohen sein.
Berühmt ist der Ort vor allem wegen seines Grabbezirks, den Antiochos I. für seinen Vater, den kommagenischen Herrscher Mithridates I. erbauen ließ.
Ein kommagenischer Herrscher (Mithridates oder Antiochos) im Handschlag mit Herakles. Foto: UK.
Ein Prozessionsweg führt vorbei an verschiedenen Stelen, von denen die Darstellung des Handschlags zwischen kommagenischem Herrscher (der Verstorbene oder der Erbauer des Grabes?) mit Herakles am besten erhalten ist.
Die Straße auf den Nemrut. Foto: KW.
Und damit war endlich das Pflichtprogramm absolviert und etwa um 4 Uhr kam das Ziel der Reise ins Visier: Wir starteten in Richtung Nemrut. Dazu mussten wir über steile, zum Teil nur spärlich befestigte Wege fahren. Gut, dass das Auto genug PS besaß. So ging es langsam, aber stetig aufwärts in der atemberaubenden Landschaft. Dürftige Vegetation, Einsamkeit, hin und wieder ein winziges Dorf, wir fuhren mehr als eine Stunde, ehe wir ankamen. Es war kalt geworden, so kalt, dass man tatsächlich eine Windjacke vertragen konnte. Es tat richtig gut, einmal dieses dicke Kleidungsstück zu brauchen, das sich bei jeder Abreise standhaft weigert, in meinen Koffer zu passen.
Vom Parkplatz muss man noch etwa 20 Minuten steil bergauf laufen. Für ältere oder übergewichtige Leute ist dieser Weg sicher nichts. Man kann sich kaum vorstellen, dass jährlich rund eine Viertel Million Besucher auf den Nemrut kommen. Eine Besichtigung ist nämlich nur einige wenige Monate im Jahr möglich. Bis Mitte Mai können die Straßen verschneit sein. Trotzdem reisen die meisten im Mai an, dann gibt es eine gewaltige Schwemme von Italienern im August, im September bis Mitte Oktober kommen ebenfalls noch einmal die Massen, ehe der Nemrut wieder im Schnee versinkt. Wir dürfen uns allerdings nicht beschweren. Gut 50 Besucher waren zum Sonnenuntergang gekommen, im Mai sollen es meist 2 bis 3.000 sein.
Arsames I., vor 130 v. Chr. Bronze. Aus Auktion Gorny & Mosch 159 (2007), 239.
Das Reich von Kommagene mit seiner Hauptstadt Samosata wird übrigens bereits in assyrischen Texten erwähnt. Es soll damals deren Verbündeter gewesen sein, bis Sargon II. die Gegend seinem großen Reich als Provinz hinzufügte. Im 6. Jh. eroberten dann wohl die Perser das bergige Land, nach ihnen Alexander, und um 200 v. Chr. nannte sich Antiochos III. Herr von Kommagene. Die seleukidische Vorherrschaft endete mit dem Tod von Antiochos IV. Epiphanes, 163 v. Chr. Die Zentralmacht schwand und es gelang Ptolemaios, dem Satrapen von Kommagene, sich als unabhängiger Herrscher einzurichten.
Ptolemaios hatte parthische Wurzeln. Doch seine Nachfolger blickten nach Westen. So heiratete Mithridates I. (100-70), eben jener König, dem das Heiligtum von Arsameia geweiht war, eine syrische Prinzessin, Laodike VII. Thea.
Antiochos I., ca. 69-34. Bronze. Rv. Schreitender Löwe. Aus Auktion Gorny & Mosch 199 (2011), 527.
Ihr gemeinsamer Sohn, Antiochos I. Theos von Kommagene (70-38) wurde zum bedeutendsten König des Reichs. Er war es, der das große Heiligtum auf dem Nemrut errichtete. Er stand auf Seiten der Römer, als Pompeius gegen Mithridates von Pontos kämpfte, und konnte so Kommagene die Unabhängigkeit bewahren. Erst mit dem Tod des Antiochos III. im Jahre 17 fiel das Gebiet an die Römer, obwohl ein Thronfolger existierte.
Tiberius, 14-37. Dupondius, Mzst. in der Kommagene. Rv. Geflügelter Caduceus. RIC 89. Aus Auktion Gorny & Mosch 164 (2008), 367.
Tiberius annektierte das Reich und schloss es an die Provinz Syrien an.
Antiochos IV., 38-72. Bronze. Rv. Skorpion. Aus Auktion Gorny & Mosch 196 (2011), 2270.
Caligula machte dessen Sohn, Antiochos IV., den er häufig am Hof seiner Großmutter getroffen hatte, wieder zu einem unabhängigen König und fügte das raue Kilikien seinem Reich hinzu. Allerdings sorgte erst Claudius auch für die Durchführung dieser Ernennung. Antiochos war ein treuer Verbündeter der Römer in seinem Reich. Er hob für Nero Truppen aus, um Krieg gegen die Parther zu führen, und wurde zum Lohn kurzzeitig Herrscher von Armenien. Vespasian, der sich bei seinem Aufstieg zum Kaiser auf das Geld und die Truppen von Antiochos gestützt hatte, ließ ihn 72 absetzen, weil der Gouverneur von Syrien seinen Nachbarn beschuldigte, mit den Parthern zu konspirieren.
Antiochos IV. für Epiphanes und Kallinikos, seine Söhne. Aus Auktion Künker 94 (2004), 1384.
Tatsächlich flohen seine Söhne zu den Parthern, währen sich Antiochos zunächst in Sparta, dann in Rom zur Ruhe setzte. Wann genau er starb, wissen wir nicht, aber fortan war Kommagene ein fester Bestandteil des römischen Reichs.
Kopf der Kolossalstatue des Mithras. Foto: UK.
Was soll man über den Nemrut selbst schreiben? Wohl jeder hat schon Bilder gesehen von dieser eindrucksvollen Monumentalgrabstätte.
Der Tumulus. Foto: UK.
Vor einem riesigen Tumulus stehen die Überreste der Körper der einstigen Götterfiguren. Die Köpfe liegen davor. Eigentlich ist die Anlage klein und überschaubar. Am beeindruckendsten ist das Fehlen jeder touristischen Infrastruktur. Es gibt ein paar kleine Teebuden vor dem Eingang, dazu ein oder zwei Souvenirstände, eine gelbe Hinweistafel mit vielleicht 10 Zeilen englischer Erklärung und das war es dann.
Weitere Kolossalköpfe. Foto: UK.
Wir sahen uns also zuerst die Ostterasse an, dann die Westterasse. Das war’s. Ich setzte mich ein wenig an die Seite, um von dort aus den Blick auf die Westterasse und vor allem die wundervolle Aussicht zu genießen.
Alle warten auf den Sonnenuntergang. Foto: KW.
Alle standen dort und warteten auf den Sonnenunterganz. Wir beschlossen, dass wir das nicht tun würden. Berühmter Sunset gut und schön, aber dazustehen zusammen mit 50 anderen Leuten, um wie hypnotisiert nach Westen zu blicken und im richtigen Moment „oh!“ zu stöhnen, das musste denn doch nicht sein. Vor allem wenn ich daran dachte, dass wir den ziemlich steilen und unbequemen Weg nach unten dann in der Dunkelheit zurücklegen müssten… Allerdings gab es ein paar Probleme, Jussuf unseren Entschluss mitzuteilen. Er verstand einfach nicht, was wir meinten. Den Sonnenuntergang zu verpassen, das lag jenseits seines Weltbilds. Ein Türke kam uns zu Hilfe, übersetzte, und wir kamen ins Gespräch. Wir hatten zufällig den Tourismusdirektor des benachbarten Adiyaman getroffen, der gerade mit einer Kommission auf dem Nemrut Dagh einen Ortstermin hatte, um über den Ausbau der Ausgrabung zu beraten. Es wurde eine hochinteressante Stunde. Wir fachsimpelten über die diversen Möglichkeiten – von einer Ausstellungshalle mit digitaler Präsentation über Audioguides und Infotafeln. Es war anregend. Was mir erst lange nach dem Gespräch auffiel, war die Tatsache, dass mich mal wieder ein Türke ernst genommen hatte. Die Stellung der Frau hier im Osten ist etwas, mit dem ich echte Probleme habe.
Wie auch immer, wir gehörten wir zu den ersten, die aufbrachen. Und wir waren im Nachhinein sehr froh. Die Heimfahrt dauerte nämlich bis Viertel nach elf – und das obwohl wir auf das Abendessen verzichteten, das Jussuf uns stolz als im Preis inbegriffen beschrieb.
Die Fahrt durch die Berge war äußerst eindrucksvoll. Was ich aber nie vergessen werde, sind die brennenden Felder, an denen wir vorbeikamen. In der Türkei brennt man immer noch die Erntereste ab, um so die Düngung für die nächste Saat sicherzustellen. Nicht gerade umweltfreundlich und geradezu gespenstisch, wenn die Feuer in dunkelster Nacht entlang der Straße hochflackern.
Die nächste Folge des numismatischen Reiseführers beschäftigt sich mit Urfa und Caesarea Cappadocia, dem wichtigen Verwaltungszentrum am Fuße des Mons Argaios.
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