1972 publizierte Konrad Kraft ein Buch, das unter seinen Kollegen große Aufmerksamkeit hervorrief: In „Das System der kaiserzeitlichen Münzprägung in Kleinasien“ behauptete er, dass die kleineren Städte, die sich keine ständige Münzstätte leisten konnten, von den Diensten wandernder Münzstätten profitierten. Damit wollte er die bereits 1902 von Kurt Regling bemerkte Tatsache erklären, dass kleinasiatische Städte für ihre Münzen gemeinsame Vorderseitenstempel benutzten. Dieser These von Kraft ist seitdem oft widersprochen worden, aber wohl noch nie auf Grund einer so gewaltigen Materialbasis, wie sie George Christopher Watson in dieser Arbeit vorlegt.
Ein Phänomen und viele Erklärungen
Wie gesagt, eigentlich ist nur eines sicher: Dass die Münzen von unterschiedlichen Städten dieselben Vorderseitenstempel benutzten oder sich stilistisch ähneln. Doch wie es zu diesem Phänomen kommt, dafür hat Konrad Kraft nicht die einzige Interpretation geboten. Man könnte durchaus an gemeinsame, fest installierte Prägestätten denken, oder daran dass die aufwändig und kostenintensiv zu produzierenden Stempel, die durch die Herstellung einer kleinen Emission noch nicht verbraucht waren, an andere Städte verliehen oder verkauft wurden. Möglich wäre es auch, dass sie sich im Besitz eines Münzmeisters befanden, der für verschiedene Münzstätten arbeitete.
Das Problem an der Sache ist, dass wir keine literarischen und keine epigraphischen Zeugnisse besitzen, die uns einen Hinweis darauf geben, wie die Stempel von einer Stadt zur anderen kamen. Wir besitzen lediglich die Münzen als Sachzeugnisse und können uns Modelle zur Erklärung erdenken, die das Zeugnis der Münzen besser oder weniger gut erklären.
Ein höchst nützlicher Katalog
Zu diesem Zweck hat der Autor einen vielseitig nutzbaren Katalog erstellt, und zwar einen Stempelkatalog, in dem alle bekannten Exemplare von siebenundzwanzig Städten der Provinzen Pamphylien, Pisidien und Kilikien versammelt und nach Stempeln geordnet sind. Unter ihnen befinden sich Plätze von denen noch nicht einmal der langjährige Sammler je etwas gehört hat wie Andeda oder Panemoteichos, aber auch bekannte Städte, die heute Touristenzentren sind wie Attalea (= Antalya) oder Side.
Überflüssig zu sagen, dass der Katalog alle numismatischen Anforderungen erfüllt. Und wer sich an die mühsame Arbeit des Bestimmens macht, der wird sich freuen über die 74 Tafeln, auf der allerdings nicht alle Münztypen abgebildet sind. Der Autor entschied, all die Typen nicht aufzunehmen, die zu schlecht erhalten waren, um eine Stempelbestimmung vorzunehmen.
Nichtsdestotrotz versammelt der Katalog eine Menge an Material, über das sich jeder, der kleinasiatische Münzen bestimmen will, sehr freuen wird. Es ist ein Kinderspiel, damit festzustellen, wie selten eine Münze ist. Und das Material ist wunderbar aufbereitet. Es zeugt vom Pragmatismus des Autors, dass er alle aufgelisteten Stempelkombinationen einfach durchnummeriert hat, was das Zitieren enorm erleichtert!
Die Auswertung
Wir wollen an dieser Stelle nicht die Details der Auswertung vorwegnehmen, sondern zusammenfassend sagen, dass George Watson einen nicht so verallgemeinernden Ansatz hat wie Kraft, sondern dass er von Fall zu Fall unterscheidet, welche Gründe es für gemeinsame Vorderseitenstempel geben könnte. Stilistische Ähnlichkeiten zwischen Münzen weisen in seinen Augen auf einen „wandernden“ Stempelschneider hin, und Münzstempel können ausgeliehen werden. In manchen Fällen, wenn sehr häufig Stempel geteilt wurden, dürfte es eine gemeinsame Münzstätte gegeben haben.
Watson zieht für seine Fragestellung auch andere Kriterien heran wie zum Beispiel die Schrötlinge und die Stempelstellung. Denn man darf davon ausgehen, dass sowohl der Nachschub an Schrötlingen als auch die Produktionsweise, wie sie sich durch die Stempelstellung ausdrückt, identisch sind, wenn zwei Städte tatsächlich gemeinsam eine Münzstätte nutzten.
Moderne Verhältnisse?
Der Ansatz von George Watson scheint sinnvoll, vor allem wenn man überlegt, wie sehr sich selbst heutzutage die Organisation von Münzstätten unterscheidet. Da gibt es Münzstätten, die für verschiedene Staaten prägen, andere Staaten haben Münzstätten, in denen von der Ronde bis zur Verpackung alles in Eigenregie hergestellt wird. Wir kennen private Rondenlieferanten und prägetechnische Ähnlichkeiten, die sich aus einem einzigen Grund manifestieren, nämlich weil zwei Münzstätten dieselben Maschinen resp. dieselbe Designsoftware benutzen.
Münzprägung ist noch heute eine unglaublich differenzierte Angelegenheit, bei der jede Münzstätte, jeder Staat seinen eigenen Weg geht.
Warum hätte das in der Antike anders sein sollen?
Und wer soll das Buch kaufen?
Es ist leicht, eine Kaufempfehlung für dieses Buch auszusprechen. Denn jeder, der auf wissenschaftlichem Niveau Münzen beschreiben will, sollte dieses Buch kaufen. Darüber hinaus empfiehlt es sich für alle, die kaiserzeitliche Münzen des südlichen Kleinasiens sammeln als umfassender Katalog und als anregende Lektüre.
Apropos anregende Lektüre, ich würde diesen differenzierten Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten, die Münzprägung zu organisieren, auch all denjenigen empfehlen, die sich mit der Münzprägung anderer Zeiten beschäftigen, in denen es ebenfalls keine schriftlichen Quellen gibt. Vielleicht lassen sich die Ansätze von Watson auch auf andere Bereiche übertragen.
Europäer bestellen das Buch am besten über Oxbow Books.
Für die USA vertreibt die ANS das Buch in Eigenregie.
George Watson hat einen Account bei Academia.edu
Wenn Sie Sehnsucht nach etwas Sonne und der Türkei haben in diesen Zeiten von Covid-19, empfehlen wir Ihnen unser Reisetagebuch von 2009, das an einige der Orte führt, deren Münzen George Watson in seinem Katalog auflistet.