Waren Sie schon mal im schwäbischen Ravensburg? Nein? Verständlich, die Stadt mit ihren heute 50.000 Einwohnern ist zwar durchaus hübsch, aber nicht wirklich ein Zentrum des internationalen Tourismus (Gott sei Dank!). Wer es aber auf sich nimmt, die Stadt und vor allem ihr wirtschaftsgeschichtliches Museum zu besuchen, stellt überrascht fest, dass Ravensburg vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit ein Zentrum der Tuchproduktion war. Tuche aus Ravensburg wurden in der ganzen damals bekannten Welt vertrieben. Und damit ja niemand auf die Idee kam, seine eigenen minderwertigen Produkte im Ausland als Ravensburger Wolltuch zu verkaufen, gab es im Rathaus von Ravensburg die Tuchbeschau, bei der von städtischer Seite jedes einzelne Produkt auf seine Qualität geprüft und mit einem Siegel versehen wurde. Diese Siegel reisten zusammen mit den Tuchen durch die ganze Welt und dienten dem Käufer zur Bestätigung, dass er auch das bekam, wofür er zahlte.
Nun waren die meisten dieser Siegel aus Blei, einem Material, das leicht einzuschmelzen und wiederzuverwerten war. Deshalb sind von den Milliarden von Warensiegeln und Plomben, mit denen viele Städte im Mittelalter ihre bekannten Waren kennzeichneten, die meisten verloren gegangen. Nur wenige haben sich erhalten. Dank der vielen Detektorgänger in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden sind in der jüngsten Zeit mehr von ihnen veröffentlicht worden. Und gelegentlich tauchen sie auch in Auktionskatalogen auf. Meist ist ihre Beschreibung dann kurz: Warensiegel, Blei. Und das war’s dann. Nur die wenigsten Katalogschreiber machen sich die Mühe herauszufinden, welches Wappen darauf dargestellt ist und aus welchem Raum das Siegel stammt. All denen, die es mit den Wappen nicht so haben, hilft der neue Katalog von Raf Van Laere, der 2019 in der Reihe der Limburger Studien erschienen ist, beim Bestimmen.
Vorneweg eines: Der Autor ist ein belgischer Historiker und veröffentlicht auf Flämisch. (Jedenfalls glaube ich, dass es sich um Flämisch handelt, ich bin nicht in der Lage, den Unterschied zum Niederländischen festzustellen.) Es wird also nicht jeder in der Lage sein, sein Buch zu lesen. (Ich zum Beispiel brauche dafür Google Translate.) Aber, wie bei numismatischen Büchern üblich, ist der Text zwar enorm wichtig, aber nicht entscheidend. Hauptsache, es gibt viele Tafeln mit noch mehr Abbildungen! Und in Tafeln ist dieses Buch geradezu unschlagbar.
Auf mehr als 500 Seiten sind fast 1.900 Warensiegel und Plomben des 15. bis 18. Jahrhunderts abgebildet. Dabei liegt der Schwerpunkt ganz selbstverständlich auf den Warenplomben der Wirtschaftsregion, die vor der Ära Karls V. als die Burgundischen Niederlande bezeichnet wurden. Heute würden wir wohl von Belgien, den Niederlanden und Nordfrankreich sprechen. Rund 500 Stück stammen aus den Niederlanden, 200 aus Belgien. Auch die weiteren Warenplomben, die auf den Tafeln zu finden sind, illustrieren bestens, mit welchen Wirtschaftsregionen diese Gegend in engstem Handelskontakt stand: Mit Frankreich (ca. 500 Stück) und England (ca. 250 Stück); aber auch Polen (ca. 120) und Spanien (ca. 50) sind vertreten. Aus Deutschland stammen ca. 170 Objekte, zumeist übrigens aus Norddeutschland. Ein Ravensburger Beispiel sucht man vergebens, dafür beweist eine einzelne Plombe, dass auch Tuche aus St. Gallen ihren Weg in die burgundischen Niederlande fanden.
Raf Van Laere hat mit seinen zwei Bänden ein schwergewichtiges Werk veröffentlicht, das ein Randgebiet der Numismatik in den Mittelpunkt stellt. Es öffnet uns die Augen für die Bedeutung der Warensiegel als Zeugnis für die Warenströme der frühen Neuzeit. Wohl jeder Lokalsammler dürfte nach dem Durchblättern des Katalogteils beschließen, in Zukunft auch die Warensiegel „seiner“ Stadt zu sammeln.
Übrigens, wenn Sie den Katalog noch vor dem Ende des Jahres 2019 bestellen, zahlen Sie nur 100 Euro zuzüglich Versand. Danach beträgt der Preis 150 Euro. Bestellen können Sie die beiden Bände direkt beim Autor.