Was ist deutsches Kulturgut?

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von Ursula Kampmann

17. Oktober 2013 – Alan Wolan gehört zu diesen genialen Geschäftsmännern, die aus allem ihren Vorteil ziehen. Als er hörte, dass die Mauer gefallen sei, beschloss er, nach Berlin zu gehen, um dort den Tausenden von Touristen, die er für das kommende Jahr erwartete, Wiedervereinigungs-Souvenirs zu verkaufen. Wolan lag richtig. Er verdiente ein kleines Vermögen mit seinem Souvenir-Shop. Sein Stand lag damals Ecke Friedrich- und Kochstraße, also direkt neben dem berühmten Checkpoint Charlie …

Der Checkpoint Charlie in der Nacht zum 10. November 1989. Erstmals seit fast drei Jahrzehnten darf er ohne Kontrollen überquert werden. Foto Bundesarchiv, Bild 183-1989-1110-018/Oberst, Klaus/CC-BY-SA.

Dieser geschichtsträchtige Ort wurde am 22. Juni 1990 abgebaut. Das war damals Zeitgeist. Aus Freude, wieder vereint zu sein, machte man sich in Deutschland daran – ob privat oder öffentlich – die Zeugnisse der Trennung zu beseitigen, so als habe es diese nie gegeben. Mauerspechte zerhackten die Mauer in Kleinstteilchen. Die historische Kontrollbaracke des Checkpoint Charlie wurde von einem Kran in Anwesenheit der vier alliierten Außenminister abtransportiert. Zurück blieb das Schild, das Jahrzehntelang verkündet hatte, dass man hier den amerikanischen Sektor verlasse …

Der US-amerikanische Botschafter präsentiert Ronald Reagan das nun überflüssig gewordene Schild des Checkpoint Charlie bei seinem Berlin-Besuch am 14. September 1990. Foto: TSGT Fernando Serna / US Air Force. / Wikipedia.

Aber war es noch das „echte“ Schild? Betrachtet man nämlich Fotos dieses Wahrzeichens aus unterschiedlichen Jahren, dann stellt man schnell fest, dass diese Schilder ausgetauscht wurden, wenn Wind und Wetter ihnen derart zugesetzt hatten, dass sie nicht mehr zu brauchen waren. Zu erkennen ist dies an den kleinen Nummern rechts unten, neben der Bezeichnung „U.S. Army“. Solche Schilder müssen bei der amerikanischen Armee auf Vorrat vorhanden gewesen sein, anders ist das Geschehen nach dem 22. September nicht erklärbar.
Die Vorbereitung des Festakts zum Abbau des Checkpoint Charlie in Anwesenheit der Minister war nämlich reichlich hektisch verlaufen. Das Schild hatte man nach der Zeremonie entweder vergessen oder seinen Abtransport auf den nächsten Tag verschoben. Es erwartete wohl niemand, dass das schwere Schild, das kaum von zwei gut gebauten Männern zu heben ist, verschwinden würde.
Doch man hatte nicht mit der kriminellen Energie von Alan Wolan gerechnet. In einem Interview der Süddeutschen Zeitung, veröffentlicht im SZ Magazin Nr. 37 vom 13. September 2013, berichtet er über seinen Diebstahl folgendes: „Das Absägen dauerte vielleicht 15 Minuten. Alles lief glatt – außer dass wir zwischendurch plötzlich sahen, dass zwei junge DDR-Soldaten vom östlichen Teil des Grenzpostens, der ja noch besetzt war, auf uns zukamen.“ Man versteckte die Werkzeuge und gebärdete sich als amerikanische Touristenschar, bis die Soldaten wieder verschwunden waren. Erst in einem zweiten Schritt wurde das Schild von Wolan und drei Komplizen in einen Transporter geladen und abtransportiert.
Es gab keinen Skandal im Jahr 1990. Im Gegenteil, schon am nächsten Tag war ein neues Schild angebracht. Schließlich gab es die Dinger ja im Vorrat, und der Diebstahl war auch für die Verantwortlichen peinlich. Warum nicht einfach darüber schweigen? Und so präsentierte man Ronald Reagan bei seinem Besuch am 14. September 1990 ein Checkpoint-Charlie-Schild, das die Wiedervereinigung wahrscheinlich im Depot erlebt hatte.

Niemand hat dieses Teilchen der deutschen Nachkriegsgeschichte bis jetzt vermisst. Das dürfte der Grund sein, warum Alan Wolan jetzt die Öffentlichkeit sucht. Schließlich will er möglichst viel Geld mit seinem Diebesgut verdienen. Angst vor einer Strafverfolgung hat er nicht mehr. Nach deutschem Recht verjährt einfacher Diebstahl nach 5 Jahren.
Alan Wolan geht also nun darum, zu beweisen, dass sein Schild „das Echte“ ist. Diese Tatsache wird zumindest von der Direktorin des privat betriebenen Museums „Haus am Checkpoint Charlie“ vehement bestritten. Was nicht wirklich verwundert, da das private Museum auf eine Attraktion verzichten müsste, wenn das Originalschild nicht mehr das Originalschild wäre.
Doch Wolans Geschichte scheint glaubhaft und wird inzwischen allgemein akzeptiert. Derzeit diskutieren Berliner Zeitungen eifrig, ob die stets klamme Stadt die mittlerweile auf 1 Million Euro angewachsene Forderung des Diebs erfüllen soll. Sogar Bürgermeister Wowereit hat sich geäußert und mitgeteilt: „Wir haben für solch absurde Forderungen kein Geld.“

Dabei wäre doch eigentlich alles so einfach, möchte man meinen: Schließlich hat auch Deutschland ein Kulturgüterschutzgesetz. Und das Schild, das am Checkpoint Charlie die Wiedervereinigung erlebte, dürfte wohl das beste Beispiel sein für ein „nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert“. Es wäre also Zeit für die deutsche Regierung, die Rückgabe dieses nationalen Symbols von den USA zu verlangen. Es dürfte ja wohl feststehen, dass es sich bei diesem Schild um Kulturgut handelt, und dass dieses Kulturgut gestohlen wurde, wenn es sich tatsächlich um das echte Schild handeln sollte.

Vielleicht steckt aber auch etwas ganz anderes dahinter. Alan Wolan ist Chef einer Werbeagentur. In einem Youtube Video spricht er über die Möglichkeiten für kleine Unternehmen, sich zu profilieren. Er setzt darauf, Werbung dort abzusetzen, wo niemand es erwartet. Nun, vielleicht entpuppt sich das Ganze als ein cleverer Werbegag für seine Werbeagentur, wenn wir noch ein paar Monate warten.

Hier finden Sie den Originalartikel der Süddeutschen Zeitung.

Hier spricht Alan Wolan über Werbung. Am 16. Oktober 2013 hatten nur 1.380 Besucher sein Video angesehen. Vielleicht ändert sich das in einigen Wochen…