von Annika Backe
14. Dezember 2017 – Hüfthoch unter Wasser stand das Hauptquartier des irakischen Geheimdienstes in Bagdad, als Dr. Harold Rhode 2003 von Oppositionsführer Ahmed Chelabi zu Hilfe gerufen wurde. Das Gebäude war von einer Bombe getroffen worden, die zwar nicht detoniert war, aber die Wasserleitungen zerstört hatte. Was für den langjährigen Nahostspezialisten im Dienst des US-Verteidigungsministeriums zunächst unspektakulär begann, sollte weite Kreise ziehen. Er und seine Begleiter fanden ein Archiv mit jüdischen Dokumenten, um deren Besitz jetzt der Irak, Kulturexperten und die in der amerikanischen Diaspora lebenden Juden streiten.
Die Große Synagoge in Bagdad auf einem Foto im Babylonian Jewry Heritage Center.
Dass sich das Archiv überhaupt an dieser Stelle befand, geht zurück auf Ereignisse, die weitere 20 Jahre zurückliegen. In den 1980ern waren in einer nächtlichen Aktion im Auftrag des irakischen Staates Gemeindedokumente und liturgische Geräte aus der einzigen noch funktionierenden jüdischen Synagoge in Bagdad abtransportiert worden. Unter den konfiszierten Objekten befanden sich Bücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert, alte Thora-Rollen teils in ihren originalen Behältern, persönliche Fotos und vieles mehr.
Die einstigen Besitzer leben nicht mehr in diesem Land, das auf eine lange Geschichte von Verfolgungen und anti-jüdischen Übergriffen zurückblickt, mit Höhepunkten in der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er sowie unter dem Regime von Saddam Hussein. Zurück bleiben die Zeugnisse ihres Glaubens und ihrer Kultur.
Thora-Rollen sind bis heute unverzichtbar im jüdischen Gottesdienst. Foto: Roy Lindman / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0.
Jene des Archivs in Bagdad wollten Harold Rhode und Ahmed Chelabi sichern. Nach dem Abpumpen des Wassers stellte sich heraus, dass viele Artefakte und Schriften Schäden erlitten hatten, die eine professionelle Konservierung erforderten. In Absprache mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney – und nach Aussage Rhodes in Übereinstimmung mit einer Vereinbarung, der offizielle irakische Organe, die Übergangsregierung sowie die Opposition zugestimmt hatten – wurde das Kulturgut zur Konservierung in die USA gebracht. Laut Medienberichten wurde diese Vereinbarung 2013 um weitere fünf Jahre verlängert.
Der Irak pocht nun auf eine Rückgabe dieser Objekte, die in einer Wanderausstellung an verschiedenen Orten in Amerika zu sehen waren und viele jüdische Besucher sehr berührten. Noch ist über den künftigen Verbleib nicht entschieden. Beobachter fürchten eine pro-irakische Lösung. Schließlich habe Amerika bereits mit 16 Ländern, zuletzt Ägypten, Memoranda of Understanding unterzeichnet. Nach den deutlichen Verschärfungen für den Import von Objekten von archäologischem und/oder kulturellem Wert aus Syrien drängt aktuell Libyen auf eine ähnliche Kodifizierung seiner Ansprüche. Die Regularien betreffen explizit auch Objekte der jüdischen Kultur – dass gerade solche Länder ein gesteigertes Interesse an deren Verbleib bzw. wie im Falle des Irak an deren Rückgabe hätten, zugleich aber die jüdischen Besitzer mit Repressalien überzögen, kritisieren Experten in der ganzen Welt.
Einige der im Londoner British Museum ausgestellten Bronzen aus Benin. Foto: Rtype909 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0.
Dies berührt die generelle Frage danach, wie Staaten mit ihrer eigenen Geschichte umgehen. Betrachtet man Kulturgüter als Eigentum des Landes oder derjenigen (Minderheiten), die sie produziert haben? Hierzu bietet sich ein Blick nach England an. In der altehrwürdigen Universitätsstadt Cambridge ist jüngst ein Streit darüber entstanden, ob ein bronzener Hahn von seinem Standort im Jesus College an Nigeria zurückgegeben werden soll. Die Figur gehört zu den sogenannten „Benin-Bronzen“.
Beninbronze: Portugiesischer Sklavenhändler umgeben von Manillen; aus diesen Bronzearmbändern wurden die prachtvollen Beninbronzen gefertigt. Foto: UK.
Diese wurden ausschließlich am Königshof des Herrschers von Benin aus portugiesischem Metall gefertigt. Das Metall kam im Tausch für Sklaven an den königlichen Hof, da nur der König und die von ihm lizensierten Sklavenhändler das Monopol auf den Sklavenhandel mit europäischen Sklavenhändlern hatten. Die Menschen, mit deren Leben das Metall erkauft wurde, transportierte man als billige Arbeitskräfte nach Übersee, vor allem nach USA und in die Karibik. Dass auch die Nachkommen dieser Menschen heute vielleicht einen Anspruch auf die Beninbronzen haben könnten, steht natürlich nicht zur Debatte.
Beninbronze: Einheimische Sklavenagenten des Königs, in den Händen europäische Manillen. Foto: UK.
Vielmehr konzentriert man sich auf die Art, wie die Beninbronzen nach Europa kamen. Sie schmückten einst den königlichen Palast im heutigen Nigeria. In den 1890er Jahren schickte Großbritannien eine offizielle Expedition nach Benin. Als Vorwand diente die Behauptung, man wolle den Sklavenhandel Benins mit Portugal unterbinden. Seit der Aufhebung der Sklaverei in Großbritannien nutzten die Politiker diese moralische Überlegenheit immer wieder, um in die politischen Verhältnisse anderer Völker einzugreifen.
Diese Expedition wurde durch einen Übergriff, dessen Urheber bis heute nicht feststehen, ausgelöscht. Nur zwei Teilnehmer überlebten. Daraufhin schickte die Britische Regierung eine Strafexpedition, die dank ihrer überlegenen Ausrüstung die kriegerische Militäraristokratie von Benin vernichtete und das Königreich eroberte. Die Beninbronzen wurden als Kriegsentschädigung mitgenommen und an Museen in der westlichen Welt verkauft.
Sklaven aus dem Volk der Yoruba: Heute südwestliches Nigeria. Foto: UK.
Die Kunstwerke verteilten sich in der Folge auf Museen in der ganzen Welt und veränderten das Bild, das die Zeitgenossen von Afrika hatten. So ließ sich zum Beispiel die Bewegung des Expressionismus entscheidend von den großartigen Kunstwerken des bisher „Schwarzen Kontinents“ beeinflussen.
Heute finden sich Beninbronzen im Londoner British Museum, im Berliner Ethnologischen Museum und im Metropolitan Museum New York, um nur einige zu nennen. Der seit 1960 unabhängige Staat Nigeria hat bislang schon mehrere Versuche unternommen, diese Objekte zurückzubekommen.
Im Fall des Cambridger Hahns zeichnet sich wohl eine dauerhafte Rückgabe ab. Wie in verschiedenen Medien zu lesen, betont die Universität Cambridge die Wichtigkeit eines konzertierten Vorgehens aller Museen, die Benin-Bronzen in ihrem Bestand haben: „Angesichts der Größe dieser auf die Welt verteilten Sammlung hoffen wir, dass durch eine gemeinsame Diskussion und ein gemeinsames Vorgehen mehr erreicht wird als durch Einzelaktionen.“
Beide Beispiele zeigen, wie komplex das Verhältnis zwischen kulturellem Erbe, Vergangenheit, Leidtragenden, Ansprüchen, Schuld und ihrer Bewältigung sind. Alles über die Nation zu entscheiden, mag vielleicht juristisch praktikabel sein, wird aber der historischen Entwicklung in keinster Weise gerecht.
Die wesentlichen Informationen für diesen Artikel entstammen einer Meldung des Comittee for Cultural Policy vom 2. Oktober 2017.
Ebenfalls beim Committee for Cultural Policy finden Sie weitere Informationen zum libyschen Ersuchen um ein MOU mit den USA.
Zu den Reaktionen bei Privatpersonen und Experten lesen Sie mehr in diesem Artikel der Jewish Telegraphic Agency.
Mehr über Harold Rhode erfahren Sie in seinem Wikipedia-Artikel.
Zur Geschichte der Juden im Irak erfahren Sie mehr hier und hier.
Die Geschichte der Beninbronzen ist wegen ihrer Komplexität nicht so leicht im Internet zu finden, sondern in einem altmodischen Buch, nämlich im (deutschsprachigen) Katalog „Benin. Könige und Rituale. Höfische Kunst aus Nigeria.“ Die Ausstellung fand 2007 in Wien statt.
Trotzdem gibt es eine Kurzfassung auf AncientOrigins.net.
Zur Rückgabe der Cambridger Beninbronze vgl. The Guardian.