Nur 15 Kilometer bis zum Tod – Erfahrungen aus dem Krieg

Tetiana Fomenko, Leiterin des Ukrposhta-Philatelieladens, vor dem Verkaufsschalter im Hauptpostamt am Privokzalnaya-Platz in Charkiw.
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Tetiana Fomenko (Татьянка Фоменко) lebt in Charkiw (Харків). Die ukrainische Philatelistin sammelt Briefmarken der modernen unabhängigen Ukraine und Katzen- und Hundemarken. Sie leitet den Philatelieladen des Postbetreibers Ukrposhta und pflegt die Facebook-Seite der Philatelie Charkiw ehrenamtlich.

Wir geben einen ausführlichen Auszug eines Interviews mit ihr wieder, das für die japanische Zeitschrift Yūshu (郵趣) am 19. Mai 2022 von Axel Dörrenbach (VP Verbandsprüfer / AIJP) auf Deutsch geführt wurde:

Axel Dörrenbach: Frau Fomenko, am 24. Februar hat Russland die Ukraine mit brutaler militärischer Gewalt überfallen. Deshalb vorweg: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Tetiana Fomenko: Danke! Bei mir und meiner Familie ist alles in Ordnung. Wir sind gesund. Was den moralischen Zustand betrifft, so ist er natürlich weit von der Norm entfernt. Aber wir halten durch und kommen mit der Situation zurecht.

Ein Filialpostamt von Ukrposhta in Charkiw, das durch russischen Beschuss beschädigt wurde: Auf dem Bordstein sind die Brandspuren infolge des Beschusses noch deutlich erkennbar . Die Ruine wurde provisorisch gesichert.

AD: Sie leben in Charkiw, im Osten der Ukraine. Die russischen Invasoren versuchen, diese Großstadt zu erobern. Wie gestaltet sich die Versorgungslage während der Belagerung?

TF: Egal, wie sehr sich die russischen Invasoren bemühten, Charkiw wurde nicht vollständig eingeschlossen. Feindseligkeiten rund um die Stadt, insbesondere in den ersten Kriegswochen, führten zu Störungen in der Lebensmittelversorgung. Daher herrscht seit einiger Zeit ein Mangel bei einigen Produkten. Nun wurde die Warenversorgung wieder aufgenommen. Es gibt Einschränkungen im Sortiment, aber alle wichtigen Produkte sind in den Läden vorhanden.

Wasser-, Strom- und Wärmeversorgung, Fernsehen, Internet, Mobilfunk – all dies funktioniert in Charkiw. Der Beschuss führte zu Unterbrechungen, aber die Versorgungsunternehmen arbeiteten weiter – sie führten Reparaturen durch und stellten die Versorgung wieder her. Manchmal dauerte es Stunden, manchmal einen oder ein paar Tage. Aber alle Unterbrechungen wurden schnell behoben. Dafür sind wir sehr dankbar.

Das Postamt in Charkiw funktionierte nur in den ersten Tagen der Invasion nicht. Es dauerte mehrere Tage, um die Lieferlogistik und die Arbeit der Postämter anzupassen. Anfangs arbeiteten wir mit Einschränkungen, etwa Versand nur für Stadt und Region. Jetzt ist die Post in Charkiw und Region sowohl für den Inlands- als auch internationalen Verkehr wieder voll funktionsfähig.

Tetiana Fomenko: „Und lass’ den Krieg, du musst jetzt leben. Und trotz Luftalarm, starten wir den Morgen mit … Blumen!! Sie mögen morgen verwelken, aber heute werden sie Blumen sein.“

AD: Wie nahe sind die Invasoren an Ihren Arbeitsplatz herangerückt?

TF: Die Filiale befindet sich in einem der ältesten Postämter Charkiws, ein Denkmal des Konstruktivismus. Das ehemalige Hauptpostamt ist am Privokzalnaya-Platz, daneben befinden sich weitere architektonische Denkmäler, wie der Hauptbahnhof und die regionale Eisenbahnverwaltung. Russische Truppen standen am Stadtrand, etwa 15 bis 18 Kilometer vom Zentrum entfernt.

AD: Wurden Postämter gezielt angegriffen? Gab es Opfer zu beklagen? Gab es materielle Schäden?

TF: Ukrposhta verfügt über ein ausgedehntes Filialnetz. Natürlich traf der Beschuss Gebäude, einschließlich der Post. Daher sind manche Beschädigungen entstanden und finden auch noch heute statt, aber ich habe keine Informationen über die Ausmaße.

Sommer 2020: Hauptpostamt Charkiw, Privokzalnaya-Platz, wo sich das Philateliegeschäft von „Ukrposhta“ (Ukrainische Post) befindet.

AD: Sie sind trotz allem geblieben. Warum? Hatten Sie täglich den Postschalter geöffnet?

TF: Ja, ich blieb. Warum? Das ist meine Stadt, meine Erde. Bis zum 24. Februar lebte ich in einem freien, unabhängigen Land. Russland hatte keinen Grund, seine verbrecherische militärische Aggression gegen unseren Staat durchzuführen. Warum sollte ich etwas an jemanden abtreten, was mir von Rechts wegen gehört? Ich bin in der Stadt geblieben, weil ich Vertrauen und Zuversicht in die ukrainischen Streitkräfte hatte und habe.

Seit März arbeitet die Post in verkürztem Modus. Vor dem Krieg war das Philatelie-Geschäft dienstags bis samstags von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Das Postamt war sogar rund um die Uhr geöffnet. Jetzt öffnen wir dienstags bis samstags von 9.30 bis 14.30 Uhr.

Nachts ist fast immer Alarm. Am 18. Mai beispielsweise war Luftalarm für Charkiw und Region um 19.58 Uhr, 20.33 Uhr, 21.45 Uhr, 0.02 Uhr, 5.01 Uhr und 5.58 Uhr. Dann gehen wir mit Notgepäck in die Schutzräume.

AD: Gibt es derzeit trotz moderner Medien Menschen, die Briefe verschicken?

TF: Es werden immer noch Briefe verschickt. Während des Krieges ging das Volumen aber erheblich zurück. Aber es gibt diese Postsendungen von normalen Leuten und auch Postcrossern und Philatelisten, die im Ausland etwas zum Anfassen haben möchten. Ukrainische Marken werden so zur Verbindung mit der Heimat.

Die ersten Briefmarken der unabhängigen Ukraine; Ersttag 1. März 1992. Fast auf den Tag genau 30 Jahre später begann Russland den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.

AD: Von wann bis wann war der Postverkehr unterbrochen?

TF: Ich kann nur für Charkiw sprechen: Der Postverkehr war nur wenige Tage unterbrochen. Zuerst wurde die Post in Stadt und Region wieder bearbeitet, dann im Inland und zuletzt international. Lediglich die Postbeziehungen zu Russland und Weißrussland sind ausgesetzt.

AD: Was für Sendungen finden statt?

TF: Die Menschen schickten hauptsächlich Papiere und persönliche Gegenstände. Die wirtschaftliche Erholung der Region beginnt nun allmählich, so dass die kommerziellen Lieferungen zunehmen.

AD: Gibt es eine Militärzensur?

TF: Alle Pakete wurden offen entgegengenommen und einer Sichtkontrolle unterzogen. Die Liste der verbotenen Anhänge blieb unverändert. Es gibt keine militärische Zensur. Aber Berichte über unsere Truppen gefährden unser Land und daher verbreiten verantwortungsbewusste Ukrainer solche Informationen nicht.

AD: Wie lange dauert die Beförderung gemäß Ihren Erfahrungen?

TF: Die Situation ändert sich täglich und ist von Region zu Region unterschiedlich. Bei internationalen Sendungen sind die Postämter anderer Länder beteiligt, und die Verzögerung hängt nicht mit der Arbeit von Ukrposhta zusammen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Inlandsbriefe/-pakete in wenigen Tagen bis zwei Wochen zugestellt wurden. Briefe ins Ausland laufen zwar schneller und Pakete langsamer, brauchen aber mindestens zwei Wochen bis eineinhalb Monate.

AD: Fand in Charkiw trotz Belagerung eine Postzustellung statt?

TF: Jeder Poststelle wird für die Postzustellung ein bestimmter Stadtteil zugeordnet, der sich um die Filiale herum befindet. So wurde, wenn möglich, die ganze Zeit über nach Hause geliefert.

2022: Briefmarken und Umschlag „Russisches Kriegsschiff“.

AD: Das Motiv „Russian warship, go f*ck yourself“ hat weltweit viel Aufmerksamkeit erregt. Haben Sie diese Marke auch verkauft?

TF: Jede in der Ukraine in Verkehr gebrachte Marke wird am Ersttag im ganzen Land verkauft – auch in Charkiw. Am 12. April haben wir sie verkauft und Karten und Sonderstempel angeboten.

AD: Verkaufen Sie die Auslandsmarken in ukrainischer Hrywnja oder in Euro/US-Dollar?

TF: Die Marke mit dem Nennwert des Buchstabens „F“ war für Inlandssendungen bestimmt, die mit dem Buchstaben „W“ fürs Ausland, was 1,50 US-Dollar entspricht. Der Verkauf erfolgt in unserer Landeswährung zum aktuellen Wechselkurs der Ukrainischen Nationalbank.

AD: Welche anderen Marken sind während der Belagerung in den Verkauf gekommen?

TF: Für den 25. und 28. Februar waren neue Marken geplant: der Postblock „Naturschutzgebiet Medobory“ und die Sondermarke „Sputnik Sich-2-30“. Die Verausgabung dieser Marken wurde aufgrund des Kriegsausbruchs abgesagt.

Nach der Einführung der Marke „Russian warship, go f*ck yourself“ stieg die Nachfrage nach anderen Marken mit nationalen, patriotischen oder militärischen Motiven stark an. Solche Marken wurden in jeder Region im Rahmen der verfügbaren Mengen verkauft. Mancherorts verkauften sie sich schneller, anderenorts sind sie noch länger erhältlich.

Was die Standardbriefmarken betrifft, die von einer Vielzahl von Postkunden für ihre Sendungen verwendet werden, verfügt jede Filiale über einen „Grundstock“ solcher Briefmarken für einen ununterbrochenen Betrieb während des laufenden Monats. Daher wurde kein Mangel an Standardmarken beobachtet – und wird auch nicht zu erwarten sein.

AD: Frau Fomenko, wir danken Ihnen für das Gespräch!

 

10. September 2021: Tetiana Fomenko präsentiert die Gedenkausgabe zum 100. Jahrestag der „Nationalen Universität für Pharmazie“.

Nach dem Interview schickte Tetiana Fomenko noch diesen Nachtrag:

Als Folge von Beschuss, Bombardierung und Raketenangriffen auf Charkiw beschädigten die Russen bis Anfang Juni 2.229 mehrstöckige Gebäude, von denen 225 vollständig zerstört wurden. 2.229 mehrstöckige Gebäude … alleine nur in Charkiw. Das ist Wohnraum für zehntausend Menschen. Und seitdem wurde der russische Beschuss auf Charkiw noch täglich intensiviert.

Erstmals veröffentlicht im BRIEFMARKEN SPIEGEL 8/2022.

 

Nicht nur Briefmarken, auch Münzen dienen dazu, Botschaften zu vermitteln und Identität zu stiften. Welche Münzen die Ukraine bislang herausgegeben hat, sehen Sie in unserem Onlinearchiv Cosmos of Collectibles.

Hier stellen wir eine der neuesten Münzen der Ukraine vor.