Fiktive Archäologie. Über die willkürliche „Rekonstruktion“ von Münzhorten

Tarsos, Stater ca. 420/400 v. Chr. Nackter Jüngling mit Kappe und langer Lanze reitet nach l. auf Pegasos, unten Chimäre / Gott Nergal, bekleidet mit Kyrbasia und Himation, mit Bogen in Gorytos und Doppelaxt geht nach l., im Feld Ähre und aramäische Legende NRGL TRZ. 10,70 g. NAC 25, 2003, 201. (Photo Lübke & Wiedemann).
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Im Editorial zur Ausgabe des Online-Magazins Münzenwoche vom 9. Dezember 2021 hat die Herausgeberin Ursula Kampmann vollkommen zu Recht den inflationären Gebrauch der Rede von „Horten“ in Zusammenhang mit beliebigen Münzkomplexen von einigermaßen homogener Zusammensetzung beklagt. Tatsächlich führt die ungerechtfertigte Verwendung des Terminus „Münz-Hort“ nicht nur zu Missverständnissen sondern auch zu grob fehlerbehafteten Ergebnissen bei der Erforschung gegebener numismatischer Bestände.

Frustriert von den überaus raren und zumeist auch noch ausgesprochen lückenhaften oder sogar widersprüchlichen Informationen über die Herkunft von historischen Münzen in öffentlichen und privaten Sammlungen sowie im Münzhandel sind in den vergangenen Jahrzehnten auch durchaus gewichtige Exponenten der numismatischen Wissenschaft immer wieder darauf verfallen, aus einer zeitlichen Häufung des Vorkommens von bestimmten Geprägen auf dem internationalen Markt auf einen gemeinsamen Fundhintergrund derselben zu schließen, ohne dass irgendwelche gesicherten Angaben über Zeit und Ort der vermuteten Auffindung oder über den Umfang und die ursprüngliche Zusammensetzung der hypothetischen Fundgruppe zur Verfügung stehen würden. Keineswegs die einzigen aber besonders krasse Beispiele sind der sogenannte „Hekatomnos-“ und der sogenannte „Pixodaros-Hort“, die zu weiten Teilen aus zwischen den Jahren 1978 und 1998 vereinzelt oder auch in kleineren Partien im Handel aufgetauchten Geprägen ähnlicher Art zusammengestückelt und so 2002 in dem von Andrew Meadows und Ute Wartenberg herausgegebenen Band IX des Periodikums Coin-Hoards publiziert worden sind. Als Zusammenschau von Geprägeserien mit ähnlichem numismatischen Hintergrund und mit möglichst vielen der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannten Varianten sind solche Publikationen natürlich keinesfalls sinnlos; aber sie haben mit der Übermittlung von belastbaren archäologischen Daten wenig bis nichts zu tun. Schlussfolgerungen mit Bezug auf den archäologischen Kontext der Gepräge, welche bei einer echten Fundgruppe aus der lokalen Umgebung des Fundortes oder auch aus der Zusammensetzung des Gesamtensembles, also aus der Anwesenheit oder auch der Abwesenheit bestimmter Münztypen innerhalb des Komplexes gezogen werden können, sind hier nicht zu treffen. Mögliche Erkenntnisse können nur aus dem primären, dem numismatischen Kontext im engeren Sinn gewonnen werden; sie bleiben auf solche Aussagen beschränkt, die allein von den spezifischen Eigenschaften der einzelnen Münzen abzuleiten sind.

Nicht zuletzt dank der leidigen Debatte über den „Schutz“ von mobilen Kulturgütern beziehungsweise über die von manchen Staaten erhobenen Ansprüche auf alle archäologischen Hinterlassenschaften, die mitunter vielleicht tatsächlich aber in der Regel nur mutmaßlich von dem von ihnen beanspruchten Territorium stammen und von dort irgendwann illegal entfernt worden sein könnten, hat die Unsitte von willkürlichen Herkunftszuweisungen in den vergangenen Jahren immer mehr um sich gegriffen. Das jüngste Beispiel ist ein von Bekircan Tahberer aus Vancouver im November 2021 auf der Internet-Plattform academia.edu veröffentlichtes Papier mit dem Titel „A recent hoard of silver-staters from the Eastern Mediterranean mints, ca. 5th century BC, 2018-2021: A preliminary report”. Akribisch und unter Einschluss von allen möglichen Stempelvarianten hat der Autor insgesamt 201 in den vergangenen vier Jahren im Handel aufgetauchte frühe Gepräge aus Tarsos aufgelistet und in durchaus plausibler Weise numismatisch zueinander geordnet. Diese sollen nach seinem Dafürhalten jedoch ein und demselben rezenten Fundzusammenhang entstammen. Dabei ist ihm – von einer zu rühmenden Ausnahme (seiner Nummer 67) abgesehen – freilich wiederholt entgangen, dass einige der von ihm identifizierten Stücke nicht zum ersten Mal im Handel auftauchen und da zum Teil sogar schon seit Jahrzehnten bekannt sind. Das bringt die ohnehin ziemlich fragile Grundlage des Postulats von der Herkunft aller fraglichen Stücke aus einem einzigen, erst vor kürzerer Zeit entdeckten Hortfund natürlich einmal mehr ins Wanken.

Hier kann und soll nicht bestritten werden, dass die Häufung des Vorkommens von Geprägen aus Tarsos mit dem auf einem parademäßig aufgezäumten Pferd sitzenden Reiter in persischer Tracht in jüngerer Zeit bemerkenswert und erklärungsbedürftig ist. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass manche der vorgestellten Münzen in der Tat aus einem oder auch aus mehreren etwa gleichzeitig vergrabenen Horten kommen. Spekulationen über die Lokalisierung, den Zeitpunkt der Auffindung oder die Zusammensetzung dieser Horte, die weitergehende Schlussfolgerungen ermöglichen würden, verbieten sich indes. Sie sind eher auf Wunschdenken als auf wissenschaftliche Methodik zurückzuführen. Wie schon der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem 1921 erschienenen Tractatus logicus-philosophicus geschrieben hat: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“.

Nebenbemerkung: Für eine vollständige Aufstellung und eine Interpretation der bislang bekannten Typen früher Gepräge aus Tarsos sei auf den neuen Aufsatz des Verfassers „Between Mesopotamia and Greece: Cultural influences in Cilician coin-iconography“ in Gephyra 22, 2021, S. 92 ff verwiesen.

 

In seinem Who is Who Eintrag finden Sie weitere Informationen zu Wilhelm Müseler.

In der dreiteiligen Serie Hortfunde und andere Münzfunde stellt Alan Walker verschiedene Arten der Münzfunde vor.