Wenn man einen zurückgekehrten Besucher Lissabons fragt, was man unbedingt sehen muss, wenn man nach Lissabon fährt, dann nennt er bestimmt Belem. Das Hieronymus-Kloster dürfe man auf keinen Fall verpassen! Und unbedingt müsse man dort in der daneben gelegenen Patisserie etwas Süßes naschen! Und natürlich den Turm von Belem und das Entdecker-Denkmal! Ja, das sei absolute der Höhepunkt der Lissabon-Reise!
Karfreitag, 3. April 2015
Wir hatten bereits am Vortag entdeckt, dass die Straßenbahn Nummer 15 nach Belem direkt an der Praca do Comercio abfährt. Und zusätzlich fanden wir die großartigste Möglichkeit, in Portugal zu frühstücken. Direkt am Platz der Restauradores gibt es eine Filiale einer portugiesischen Kette, die sich hauptsächlich Kaffee, Backwaren und kleinen Imbissen widmet. Das Pao de Deus (Gottesbrot) schmeckte tatsächlich göttlich.
Und so hätten wir eigentlich gestärkt sein sollen für den Anblick, der sich uns an der Haltestelle des Trams Nummero 15 bot: Gefühlt Tausende von Touristen standen Schlange, um hineinzukommen. Wahrscheinlich waren es bloß ein paar Hunderte, aber nichtsdestotrotz karrten seit dem frühen Morgen die Trams alle 7 Minuten ca. 200 Menschen nach Belem. Dazu kamen diejenigen, die es besonders schlau machen wollten, wie wir, und mit dem Bus fuhren. Das waren zwar weniger (alle 20 Minuten ca. 60 Menschen), aber immer noch genug. Wenn man dann noch an die Taxis und die überfüllten Parkhäuser denkt, dann kann man sich die Schlange vor dem Hieronymus-Kloster vorstellen.
Vom Eingangstor aus zog sie sich in einer eleganten Schleife mehr als einen Kilometer weit. Wir beschlossen, dass wir das Hieronymus-Kloster sowieso nicht sehen wollten. Weltkulturerbe wird weithin überschätzt. Wir einigten uns darauf, dass das archäologische Museum sicher viel interessanter sei. Dort war die Schlange höchstens 100 Meter lang, aber dadurch, dass die Dame an der Kasse jedem Besucher einzeln erklären musste, dass er mit diesem Ticket nicht ins Hieronymus-Kloster käme, dauerte die Angelegenheit ein bisschen länger. Entnervt gaben wir nach einer halben Stunde auf, um stattdessen ins nautische Museum zu gehen. War ja eh genau das richtige für Belem!
Der Gründer des Vorgängerbaus des von Manuel errichteten Hieronymus-Klosters war nämlich der portugiesische Prinz, der als Heinrich der Seefahrer bekannt geworden ist. Er finanzierte im Hafen von Lissabon, von wo aus immer wieder Schiffe ins Unbekannte fuhren, eine kleine Marienkapelle, nach der dieser Ort Bethlehem genannt wurde – portugiesisch Belem. In Portugal nennt man Heinrich den Seefahrer Dom Henrique de Avis o Navegador, was ein klein bisschen übertrieben ist. Henrique selbst hat nämlich nur wenige Seefahrten gemacht. Und die führten auch nicht ins Unbekannte, sondern nach Nordafrika, dem das eigentliche Interesse Henriques galt.
Henrique war der dritte Sohn von König Joao und seiner englischen Gemahlin Philippa. Sein Vater betraute ihn mit der Verteidigung des 1415 eroberten Ceuta, das als eine Art Brückenkopf dazu dienen sollte, tiefer nach Nordafrika vorzudringen. Es gab viele Gründe dafür. Zum einen konnte man diese Feldzüge als Kreuzzüge vermarkten und vom Papst finanzielle Unterstützungen kassieren. Dann war Marokko als unglaublich fruchtbar bekannt. Last but not least litt ganz Europa damals unter einer großen Goldknappheit. Und die Händler wusste zu gut, dass das begehrte Gold irgendwie aus dem Süden in die Handelsstädte Nordafrikas kam. Diese Handelszentren zu beherrschen war einträglich – deshalb auch die Feldzüge nach Nordafrika. Nichtsdestotrotz blieb es der Wunschtraum jedes Herrschers auf der iberischen Halbinsel, an die Quellen des afrikanischen Goldes zu gelangen und sie zu kontrollieren.
Um diese Goldquellen zu finden, waren weite Seefahrten notwendig. Und die waren erst möglich geworden durch viele neue Erfindungen. Fischer, Händler und Piraten bedienten sich ihrer schon lange, wenn sie auf ihren Seefahrten ins Unbekannte vorstießen. Die Entdecker konnten sich also auf erfahrene Matrosen und Kapitäne verlassen. Sie wussten, wie man das seit dem 15. Jahrhundert weit verbreitete Astrolabium benutzte. Sie kannten den Kompass aus China und die in Italien entwickelten Portulane, Bücher, in denen nautische Informationen wie Landmarken, Strömungen und Hafenverhältnisse gesammelt wurden.
Von entscheidender Bedeutung war die Idee, das Steuer von der Seite an den Hintersteven zu verlegen. Zusammen mit dem dreieckigen Segel konnte so selbst ein größeres Schiff relativ schnelle Manöver ausführen. Mit ihren Karavellen brauchten die Entdecker bei einem Ladegewicht von 50 Tonnen lediglich 20 Mann Besatzung.
Joao I. machte seinen Sohn Henrique zum Verantwortlichen für die Expansion nach Marokko. Gleichzeitig wurde ihm die Verwaltung der Algarve anvertraut, was durchaus Sinn machte, schließlich war der Prinz damit möglichst nahe am Geschehen. Er ließ sich in Lagos nieder und führte dort einen weithin bekannten Renaissancehof, wo Gelehrte, besonders gerne aus dem Ausland, gastfreundliche Aufnahme fanden.
Zur Finanzierung seines Hofes und des Feldzugs hatte der König den Sohn als Großmeister des portugiesischen Christusordens eingesetzt. Der war aus dem 1312 aufgelösten, reichen Templerorden hervorgegangen. Henrique konnte so über dessen gesamte Einkünfte verfügen. Nur dumm, dass die hinten und vorne nicht reichten.
So schickte Henrique also Kapitäne los, um zusätzliche Einkünfte zu erwirtschaften. Er ließ sich jede Menge Handelsmonopole verbriefen. Für Thunfisch, für Sklaven und für Gold. Genauso wie es damals viele Privatleute und Adlige taten. Es muss eine Goldgräberstimmung geherrscht haben. Ob reicher Financier, ob armer Seemann, sie alle vermuteten knapp hinter dem Horizont ein reiches Land, mit dem man großartige Geschäfte machen könnte.
Im Vordergrund stand allerdings weiterhin die Einnahme von Marokko, die 1437 ziemlich spektakulär scheiterte. Bei der Belagerung von Tanger wurde das portugiesische Heer selbst zum Belagerten. Henrique konnte sein Leben und das seiner Männer nur retten, indem er versprach, Ceuta zurückzugeben. Als Geisel für die Rückgabe blieb sein kleiner Bruder Fernando bei den Feinden. Henrique nahm dessen Tod in Kauf und behielt dafür Ceuta. (Fernando wird wegen seines traurigen Endes in Portugal als heiliger Prinz verehrt, wahrscheinlich hätte er gerne darauf verzichtet.)
Und natürlich versuchten die Portugiesen weiterhin, nach Nordafrika vorzudringen. 1459 gründete Afonso V. den Orden des Schwertes. Daran knüpfte sich die Legende, dass die muslimische Herrschaft in Afrika enden würden, wenn ein christlicher Fürst Fez erobern könnte. Und so wurden alle Adligen, die bereit waren, in Afrika zu kämpfen, in diesen Orden aufgenommen. Auf seine Gründung spielt die Vorderseite der oben gezeigten Münze an.
Im Marinemuseum kann man den portugiesischen Großmachtträumen wunderbar nachhängen. So sind zum Beispiel die Schätze eines Schiffes zu sehen, das auf der Rückfahrt vom indischen Cochim am 15. September 1606 sank. Dazu gehört das Geschirr, viele Silbermünzen und Pfeffer, damals teurer als Gold. Im Wrack der Nossa Senhora da Luz, gesunken 1615 auf der Rückfahrt von Goa, wurden Kauries entdeckt.
Vorbei an endlosen Vitrinen marschierten wir unter dem Gebrüll unzähliger portugiesischer Kleinkinder. Deren Eltern hatten vermutlich auch beschlossen, dass das Marinemuseum die beste Alternative zum Hieronymuskloster darstellte. Ihre Kinder beschlossen, dass sich die großen Säle hervorragend zum Fangen und Verstecken spielen eigneten.
Und wir beschlossen, dass wir genug Marine gesehen hatten.
Am Turm von Belem war uns die Menschenschlange ebenfalls ein bisschen zu lang, um ihn zu besichtigen.
Aber wenigstens den Blick vom Entdeckerdenkmal gönnten wir uns.
Das entstand während der Herrschaft des António de Oliveira Salazar. Und dementsprechend heroisch präsentiert es die portugiesische Vergangenheit. Eingeweiht wurde es 1960 – am 500. Geburtstag Henriques o Navigador. Die Botschaft, die es vermittelte, war hochpolitisch. Das Denkmal feierte die Weltherrschaft Portugals, deren letzte Reste zu diesem Zeitpunkt am zerbröseln waren.
Umso fester krallten sich die konservativen unter den Portugiesen an ihre Kolonien. Angola, Mosambik, die Kapverdischen Inseln oder Timor, um nur einige zu nennen. Goa zum Beispiel war seit der indischen Unabhängigkeit immer wieder von der neuen Regierung zurückgefordert worden. Lissabon hatte sich diesem Ansinnen verweigert, bis am 19. Dezember 1961 die indische Armee einfach einmarschierte und Goa annektierte. Einige Portugiesen forderten daraufhin, Indien den Krieg zu erklären. Eine interessante Idee, wenn man einen Blick auf eine Landkarte wirft.
Natürlich darf man Belem nicht verlassen, ohne die berühmten Pastéis de Belem gekostet zu haben. Es handelt sich um mit Pudding gefüllte Blätterteigtörtchen, die ursprünglich von den Mönchen des Klosters hergestellt wurden. Heute produziert sie eine seit 1837 existierende Pastelaria namens Casa Pastéis de Belém. Ihre Adresse steht in jedem Reiseführer, wohl der Grund, warum so viele Touristen davor anstanden. Wir verzichteten auf die Pastéis de Belem. Man bekommt sie heute unter dem Namen Pastéis de Nata in jeder Pastelaria Portugals.
Und damit war dieser ereignis- und touristenreiche Tag zu Ende. In der dritten Folge sehen wir uns die Stadt Lissabon an.
Hier finden Sie alle Folgen der Serie „Weltmacht Portugal“.