Wie Meißener Porzellanmünzen einst das Weihnachtsfest retteten

Die Meißner Straßenbahn um 1910. Postkarte des Brück & Sohn Kunstverlags Meißen.
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„Beeil dich, hörst Du, und vergiss die Tasche nicht!“ Die Mutter klang besorgt, als sie aus der Küche kam, um nach ihrer Tochter zu schauen, die sich gerade mühte, die doch schon etwas zu eng gewordenen Stiefel anzuziehen. Sie hatte sich dazu auf die kleine Fußbank gesetzt – so ging es viel leichter. „Ja, Mama“, rief die kleine Angela zurück. „Ich werde die Straßenbahn schon nicht verpassen. Die kommt ohnehin bei dem Schneetreiben etwas später.“

Vorsorglich schaute Angela aber doch kurz durch das Fenster auf die Straße. Doch außer den vielen Schneeflocken, die schon den ganzen Vormittag vom Himmel fielen, konnte sie ganz hinten am Ende der Fabrik noch keine Straßenbahn erblicken. „Ach, Mama, es ist noch gar keine Straßenbahn zu sehen. Ich bin doch schnell.“

„Hier“, sagte die Mutter, „ich habe noch eine zweite Porzellanmünze für dich gefunden, damit kommst du wenigstens schnell wieder zurück und musst nicht die lange Strecke laufen.“ „Danke, Mama, ich beeile mich auch“, rief Angela und war schon raus aus der Tür.

„Kind, die Tasche!“ Schnell kam Angela wieder zurück und war auch schon wieder weg. Mit besorgter Miene ging die Mutter langsam die zwei Stufen hoch und schloss die Wohnungstür. Sie trat an das große Wohnzimmerfenster und sah gerade noch, wie ihre Tochter mit der Straßenbahn abfuhr. Im Wohnzimmer war es kalt und so ging sie wieder in die Küche, um wenigstens dort noch einige Holzstücke in den Herd zu werfen. Viel Holz war jedoch nicht mehr im Korb. Die Mutter seufzte leise, als sie die Schneeflocken vor dem Küchenfenster tanzen sah, und begann, einige Kartoffeln zu schälen.

Inzwischen hatte sich Angela in der fast leeren Straßenbahn auf einen Fensterplatz gesetzt. Zeit hatte sie nun genug, denn sie musste durch die Altstadt, dann über die Elbbrücke bis zum Meißner Bahnhof, der Endhaltestelle, fahren. Angela machte es sich gemütlich, auch wenn die Sitze kalt und aus Holz waren, ihr machte das wenig aus. Der Schaffner war noch im zweiten Wagen mit dem Kassieren beschäftigt, vorsorglich nahm sie aber schon die weiße Porzellanmünze in die Hand. Ganz deutlich hört sie in Gedanken ihre Mutter sagen. „Hör genau zu, für diese Münze muss man dir einen Rückfahrschein geben. Merke es dir gut oder besser, sage es dem Schaffner gleich beim Abkassieren. Kinder zahlen nur die Hälfte!“ 

Straßenbahngeld aus Meißner Porzellan von 1921. Foto: Angela Graff.

Angela sah sich das Stück genau an. Es blinkte zwar nicht wie die Münzen aus Metall, doch sah das Stück trotzdem würdevoll und edel aus. Eine „30“ und „Meissen“ war darauf zu lesen. In der Mitte war das Wappen der Stadt zu erkennen. Diese Münze war bestimmt noch vom Vater, doch der lag schon seit drei Wochen im Krankenhaus. Mutter und Oma sprachen meist von einem „komplizierten Bruch“. Der Arzt im Krankenhaus sprach dagegen stets von „viel Geduld“. Doch was war geschehen? 

Wie jeden Morgen war der Vater mit dem Fahrrad zur Arbeit in die Jutespinnerei gefahren. Doch an jenem Morgen waren die Pfützen auf den Straßen zum ersten Mal gefroren und so kam es beim Abbiegen zum Sturz. Der Fahrer einer gerade durch die enge Gasse fahrenden Straßenbahn hatte sofort gehalten, um sich um den Vater zu kümmern. Gemeinsam mit dem Schaffner hatten beide den Vater in die Bahn getragen. So fuhren sie bis zur Endhaltestelle „Bahnhof“. Dort war eine Station vom Roten Kreuz untergebracht und von dort kam Vater dann ins Krankenhaus. Doch allmählich ging es ihm etwas besser, am letzten Sonntag zur Besuchszeit konnte Angela schon ganz langsam mit dem Vater und einer Krücke bis zum Fenster im Krankenzimmer und wieder zurück zum Bett gehen. Doch einige Wochen wird es wohl noch dauern bis er wieder gesund sein wird. Ach, wenn er doch wenigstens den Heiligen Abend mit uns zusammen feiern könnte.

Angela blickte sich um, nun war sie allein in der Straßenbahn, die quietschend durch die Neugasse fuhr. Der Schaffner war noch immer im anderen Wagen und unterhielt sich mit zwei vornehm gekleideten Frauen. Ob ich später auch einmal solch einen schönen Pelzmantel tragen werde? 

Als die Straßenbahn durch die Elbstraße zur Elbbrücke fuhr, sah man die vielen Schaufenster der weihnachtlich geschmückten Geschäfte. Rote, blaue und vor allem goldene Weihnachtskugeln hingen dort, und sogar die alte Straßenbahn spiegelte sich darin, als sie vorbeifuhr. Hier am Heinrichsplatz gab es sogar einen kleinen Weihnachtsmarkt und vorn an der Ecke wurden Weihnachtsbäume verkauft. Am liebsten wäre Angela gleich ausgestiegen, um sich alles anzusehen. Schon vor einigen Tagen hatte sie sich heimlich die Frage gestellt, ob denn das Geld der Mutter überhaupt für solch einen schönen Baum reichen würde? Seit der Vater nicht mehr arbeiten konnte, weil er mit seinem gebrochenen Bein im Krankenhaus liegen musste, war das Geld in der kleinen Familie mehr als knapp geworden. Deshalb hatte die Mutter wieder begonnen, für andere Familien die Wäsche zu waschen und zu bügeln. Darum war Angela nun auch mit der großen Tasche unterwegs, um die gebügelte Wäsche an eine Kundin auszuliefern. Immerhin bekamen sie dafür 5 Mark und mit diesen 5 Mark konnten sie wieder Holz und Kartoffeln kaufen. Für größere Sprünge reichte das Geld jedoch nicht, auch das wusste Angela zu genau.

Nachdem die Straßenbahn die Elbbrücke überquert hatte, war es bis zur Endhaltestelle am Bahnhof nicht mehr weit. Als Angela ausstieg, schneite es und noch immer hielt sie die kleine weiße Porzellanmünze in der Hand. Der Schaffner hatte sie gar nicht abkassiert. „Auch gut“, sprach das Mädchen zu sich und steckte die Münze wieder in ihre Manteltasche. Es dauerte nicht lang und Angela stand, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt und die Wäsche abgegeben hatte, wieder am Bahnhof, um zurückzufahren. Lange musste sie auf eine Straßenbahn warten. Als dann endlich eine Bahn kam, war darin kaum noch Platz. Obwohl man den Schaffner nicht sah, konnte man ihn hören, als er rief: „Bitte meine Herrschaften, rücken Sie doch etwas zusammen, es wollen doch alle mit!“

Erneut nahm Angela ihr Porzellanstück in die Hand, um beim Schaffner zu bezahlen. Doch der Schaffner stand ganz hinten und war von den vielen Fahrgästen eingeklemmt. Einige Leute unterhielten sich laut, doch worüber sie sprachen, konnte Angela nicht verstehen. Alles klang etwas fremd. Sie widmete sich wieder ihren Porzellanmünzen. Oh, da wird sich Mutti aber freuen, wenn ich so schön gespart habe, dachte Angela. Sie lächelte ein wenig und legte nun auch noch das zweite Porzellanstück auf den Handteller. Während die Straßenbahn wieder über die Brücke in Richtung Altstadt ruckelte, betrachtete das Mädchen das zweite Stück genauer. Hier war eine „50“ aufgeprägt. Mutti hat mich also mit 80 Pfennig losgeschickt. 5 Mark bekam ich für die Wäsche. Ich komme also mit 5,80 Mark wieder zurück.

„Oh, what’s this?“, rief der Mann neben ihr plötzlich laut auf. Angela war erschrocken und steckte die beiden Münzen schnell in die Tasche. „Oh no, bitte zeigen sie mir die Coin.“ Angela verstand nichts. Der Mann aber starrte und sagte: „Ich möcht kaufen die Münzen aus gut Porzellan.“

Obwohl man den Schaffner noch immer kaum sah, rief er die Haltestelle „Porzellanmanufaktur Meißen“ aus, und in die Menschenmenge kam nun Bewegung. Alle wollten hier offenbar aussteigen. Angela und auch der vermutliche Engländer wurden praktisch durch die Tür der Straßenbahn gedrückt. Draußen lichtete sich die Menge, nur der Mann und eine Frau mit Schleier und Hut blieben vor Angela stehen. Die Frau sprach Angela an und noch immer zeigte der Herr mit dem komischen Akzent auf die Hand des Mädchens. „Kleines Fräulein, mein Mann und ich kommen beide aus Schottland und wollen die berühmte Manufaktur mit dem schönen Porzellan ansehen. Mein Mann ist Sammler und er sucht gerade solche Stücke wie du sie in der Hand hattest. Wenn du sie ihm verkaufen willst, wird er dir bestimmt viel Geld dafür zahlen.“

Angela stockte der Atem, das war ihr alles zu viel. „Viel Geld würde er zahlen?“, fragte sie. „Dafür kann man ja gerade einmal mit der Straßenbahn fahren“. Die Frau sprach nun etwas zu ihrem Mann, was Angela nicht verstand. Doch der Mann lachte laut und sagte: „Ja, natürlich, ich zahle gut für gute Münzen“. Dabei öffnete er seine Brieftasche und zog zwei recht große Geldscheine heraus. „Sind zehn Pfund genug?“

Angela wusste nicht recht, große Geldscheine kannte sie auch von Deutschland recht gut. Viele Zahlen waren darauf, doch dafür bekam man beim Bäcker kaum noch ein Brot. „Doch, my girl, mit diesen beiden Geldscheinen bekommst du in Deutschland eine Menge. Und von mir bekommst du noch diesen kleinen Reiter, einen Sovereign, ein Goldstück dazu. Kommen wir ins Geschäft?“, fragte der Mann. 

Gold kannte Angela noch als Münze, aber schon lange hatte sie solch ein Stück nicht mehr gesehen. Da wird Mutter bestimmt nicht böse sein, wenn ich ihr ein Goldstück mitbringe, dachte sie sich. Sie war einverstanden und übergab die Porzellanmünzen. Dafür bekam sie nun die beiden Geldscheine und das kleine Goldstück. Alles kam zu den fünf Mark in die Manteltasche. Die beiden Schotten verabschiedeten sich mit einem „Merry Christmas“ von Angela und gingen über die Straße zur Porzellanmanufaktur. Noch zweimal konnte Angela den noch immer aufgeregten Mann „Wonderful, wonderful“ rufen hören, dann waren beide hinter dem großen Tor verschwunden.

Soweit die kleine Geschichte von einer doch etwas seltsamen Begegnung in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1922. Der Rest ist schnell erzählt. Angela hatte das Fest mit den beiden Geldscheinen gerettet. Am nächsten Morgen gingen Mutter und Tochter zum Bankhaus am Kleinmarkt und der Schalterangestellte staunte nicht schlecht, als die Mutter zwei Fünf-Pfund-Noten zum Einwechseln vorlegte. Zwei weitere Bankangestellte prüften nochmals die beiden Papierstücke und nickten zufrieden. Doch wie erstaunt waren Mutter und Tochter, als man ihnen das viele Geld für die beiden Pfundnoten auf den Tresen zählte. War das nicht wie im Märchen? Noch am selben Nachmittag kauften sie Holz, Kohlen und einige Leckereien zum Weihnachtsfest. Den kleinen Tannenbaum durfte sich Angela auf dem Weihnachtsmarkt selbst aussuchen und sofort nach Hause tragen.

Nun, es wurde doch noch ein schönes Weihnachtsfest für die Familie, denn auch der Vater durfte für zwei Tage am Nachmittag das Krankenhaus verlassen. Am Heiligen Abend fand Angela in einem festlich verpackten Karton ein Paar neue Stiefel mit rotem Pelzbesatz. Dazu in einer kleinen Schachtel das kleine Goldstück, den Sovereign. Oh, wie glücklich war das Mädchen. Die Goldmünze wurde ihr Talisman und gern nahm sie das Goldstück in die Hand, wenn sie einmal traurig war. Und wenn sie es dann betrachtete, fielen ihr sofort die beiden lustigen Schotten ein. „Wonderful, wonderful“, hörte Angela noch immer den Mann laut rufen und schon lächelte sie wieder. 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Weihnachtszeit.

Die Weihnachtsgeschichten unseres Autors numiscontrol haben Tradition. Hier finden Sie die Geschichten der letzten Jahre:

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