Es war eine Münzbörse in Hannover, wo ich Dagmar Tietjen zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Ich war aus irgendwelchen Gründen allein zu dieser Münzbörse angereist. Eine sehr unangenehme Situation, denn ein Verlassen des Standes war so nicht möglich. Da stand Dagmar plötzlich vor mir und sagte resolut: „Ich bleibe jetzt mal eine halbe Stunde hinter Deinem Stand, damit Du all das machen kannst, was Du machen musst.“ Ich war ihr so dankbar! Erst später lernte ich sie besser kennen und merkte, dass diese spontane Hilfeleistung für Dagmar Tietjen typisch war: Sie hatte immer offene Augen für den anderen. Sie war hilfsbereit, ohne jegliche Sentimentalität. Daneben platzte sie geradezu vor Lebensfreude, und wer sich mit ihr über ein ernsteres Thema unterhielt, spürte ihre große Lebenserfahrung, die Lebenserfahrung eines Menschen, der alles gesehen hat: Gutes und Böses.
Dagmar Tietjen, geborene Hugo, gehörte zu den Frauen im Münzhandel, deren Leistung für das Gedeihen einer Firma oft übersehen wird. Sie wurde am 13. Februar 1946 in Unna geboren und war damit ein Kind der Nachkriegszeit. Für eine Frau war ein Studium damals die große Ausnahme, die Buchhandelslehre, wie sie Dagmar Tietjen absolvierte, galt bereits als hervorragende Ausbildung für eine junge Frau. 1967 arbeitete sie in einer Kölner Buchhandlung, als sie dort ihren zukünftigen Mann kennenlernte, Detlef Tietjen. 1970 heirateten die beiden. Und Dagmar Tietjen tat, was man damals eben so tat: Sie gab ihren eigenen Beruf auf, und unterstützte ihren Mann bei der Führung seiner Münzhandlung in Hamburg, dem Haus Tietjen + Co. Als Detlef Tietjen im Sommer 1969 seine erste Münzauktion durchführte, managte sie bereits die Verwaltung. Und das tat sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang.
Ihr Sohn Jan Tietjen bezeichnete sie einmal liebevoll als ZAfaS (Zentrale Anlaufstelle für allen Sch…); in einem modernen Betriebsorganigramm würde man ihre Position eher mit dem Kürzel COO honorieren. Sie war tatsächlich der Chief Operating Officer, also die Person, die alle administrativen und operativen Vorgänge überwachte und bei Problemen sofort und pragmatisch eingriff.
Dagmar Tietjen gehört zu jener großen Generation der Münzhändler-Ehefrauen, deren Bedeutung für den geschäftlichen Erfolg ihres Mannes weitgehend unterschätzt ist. Während der Ehemann sich auf An- und Verkauf, die Bestimmung von Münzen beschränken (konnte), lernte Dagmar Tietjen mal eben Buchhaltung, beschäftigte sich mit Computern und den dazu notwendigen Programmen, organisierte die Öffentlichkeitsarbeit und vertrat die Firma Tietjen regelmäßig im In- und Ausland auf den Kongressen des Verbands der deutschen Münzenhändler und der International Association of Professional Numismatists.
Daneben war sie am Telefon. Wenn ein Kunde ein Anliegen hatte, half sie ihm kompetent weiter, duldete aber keine Zeitverschwendung. Sie schrieb die Rechnungen, machte den Versand, erledigte einfach alles, was da erledigt werden musste. Daneben zog sie ihren Sohn Jan auf, und als dann die Enkelkinder kamen, übernahm sie einen großen Teil ihrer Betreuung und hielt so Jan und seiner Frau – beide voll berufstätig – den Rücken frei.
Man darf Dagmar Tietjen aber nicht auf die Verwaltung einer Münzhandlung reduzieren. Sie war eine hervorragende Kennerin der Geschichte, die legendäre Vorträge vor dem Verein der Münzenfreunde in Hamburg hielt. Ihr Thema waren nicht die winzigen numismatischen Details, sondern die Persönlichkeiten, die auf ihren Münzen abgebildet waren und hinter den Prägungen standen.
Nun ist Dagmar Tietjen tot. Sie starb überraschend, wurde ohne vorherige Krankheit aus ihrem Alltag gerissen. Sie hinterlässt ihren Ehemann Detlef Tietjen, ihren Sohn Jan Tietjen und seine Familie. Wir trauern mit ihnen um eine großartige Frau, die mit ihrer Menschlichkeit eines der liebenswertesten Gesichter des Münzhandels war.
Die Trauerfeier findet am 27. April 2022 im engsten Familienkreis statt. Es wird gebeten von Blumenspenden abzusehen. Wer Dagmar Tietjen gedenken möchte, der kann unter dem Stichwort „Dagmar Tietjen“ eine Spende für die Fördergemeinschaft Kinderkrebs-Zentrum Hamburg e. V. überweisen. Das Bankkonto lautet DE03 2005 0550 1241 1333 11.