Eine Weihnachtsgeschichte auf dem Postamt

Der besondere Poststempel in meinem Personalausweis. Foto: Angela Graff
[bsa_pro_ad_space id=4]

Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze wurde bedeutungslos. Überall wurde gejubelt und gefeiert. Endlich war es an der Zeit, gemeinsam ein neues Blatt im dicken Buch der deutschen Geschichte zu beschreiben. Ja, die Freude war groß. Allerdings hielt diese herrliche Vorweihnachtszeit für viele Menschen auch einen Berg an Arbeit bereit, der kaum zu bewältigen war. Täglich wurden zahlreiche Überstunden an den Schaltern von Banken, Sparkassen und Postämtern geleistet, um das begehrte Begrüßungsgeld von 100 DM auszuzahlen. Die Menschenschlangen waren nicht zu übersehen und wurden von Tag zu Tag länger. Am 16. Dezember 1989 stand auch ich in solch einer Schlange und sollte Zeuge eines besonderen Weihnachtszaubers werden.

Rüber machen zum Begrüßungsgeld

Auch ich wollte „Nägel mit Köpfen“ machen und mir die 100 DM Begrüßungsgeld abholen. Zuvor hatten mich die langen Schlangen vor den Geldinstituten abgehalten, doch nun rückte Weihnachten immer näher. Und natürlich hatte auch ich einige Wünsche, die ich mir mit dem „Westgeld“ erfüllen wollte. Also machte ich mich an diesem nebligen Tag auf den Weg, um schnell einmal „rüber zu machen“, wie man damals sagte. Ehrlich gesagt, ich nenne es noch heute so. Als ich dann aus der U-Bahn in Berlin-Wedding ausstieg, nieselte es auch noch. Na toll! Als ich die Straße überquerte, sah ich von weitem „gelb“ – auch in Westberlin war damals jede Telefonzelle gelb. Und dort, wo eine Telefonzelle stand, war meist auch das nächste Postamt nicht weit. Ich sollte recht behalten, das Haus neben der Telefonzelle entpuppte sich in der Tat als Postamt. Das war ja fast wie bei uns in Ostberlin! Ich war meinem Begrüßungsgeld schon bedeutend nähergekommen. Also rein in die gute Stube, die sich mir als riesige Schalterhalle zeigte. Auch hier standen viele Leute an den einzelnen Schaltern, ich blieb trotzdem. Ich fühlte mich wie in einer großen Wartehalle auf dem Bahnhof und auch akustisch gesehen gab es kaum Unterschiede. Laut murmelte alles, man unterhielt sich, schaute in die Zeitung oder musterte interessiert den Nachbarn. Mir fiel ein älterer Herr auf, der an einer gefliesten Säule lehnte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und das linke Bein steckte in einem Gipsverband. Er war wohl einer von „uns“, denn er hatte einen blauen Jeansbeutel in der Hand und stand wie ich in der Schlange zum „Extraschalter Begrüßungsgeld“.

Postamt mit menschlichem Antlitz

Ach, dachte ich, der arme Kerl steht zwar in der Reihe vor mir, hat aber trotzdem noch viele Leute vor sich. Ich sah mich weiter im Postamt um, schließlich war ich ja noch nie auf einem „Westpostamt“ gewesen, und Zeit hatte ich genug. An der Seite der Halle stand ein großer Tisch mit einem Weihnachtsbaum, der herrlich geschmückt war. Bunte Lampen ließen diese kleine Weihnachtsinsel auf dem Postamt und das Lametta am Baum in allen Farben erstrahlen. Mein Blick erfasste nun wieder den alten Mann, der sich noch immer mühsam an der Säule abstütze. Plötzlich ging irgendwo, ich konnte es nicht genau sehen, eine Schaltertüre auf. Ein Postangestellter mit einem kleinen Polsterstuhl erschien. Er stellte den Stuhl an den Tisch mit dem Weihnachtsbaum und ging zurück bis er bei dem Mann mit dem Gipsverband angekommen war. Er sagte: „Kommen Sie mit rüber, damit Sie sich setzen können. Geben Sie mir einfach Ihren Ausweis und ich erledige das für Sie am Schalter.“ Der alte Mann war verdattert, setzte sich an den Tisch mit dem Weihnachtsbaum und gab dem Postangestellten wortlos seinen Ausweis. Der Angestellte verschwand wieder hinter dem Schalter, um binnen weniger Minuten wieder an den Tisch zu eilen. Dort überreichte der Angestellte dem alten Mann mit Gipsverband den Ausweis, aus dem auf beiden Seiten der Hundertmarkschein herausschaute. Dem alten Mann zitterten die Hände, als er mit einem leisen „Dankeschön“ beides in seine Jackentasche steckte. „Schon gut“, sagte der Postangestellte und beide reichten sich zum Abschied die Hände. Überall war es in den Reihen vor den Schaltern still geworden. Jeder beobachtete interessiert das Geschehen. Sogar das leise „Klack“ der großen Postuhr an der Wand war zu hören.

Frohe Weihnachten. Foto: Angela Graff

Und genau in diesem Augenblick gingen in der Schalterhalle sämtliche Lampen aus. Nur der wunderschön geschmückte Weihnachtsbaum verzauberte den Raum mit seinem strahlenden Lichterglanz. Alles dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann flackerten die Neonlichter wieder auf. Viele schauten sich verdutzt an und lachten, einige schwiegen in sich gekehrt, so wie ich. Doch jeder war davon überzeugt, dass wir hier, gerade eben, einen besonderen Weihnachtszauber erlebt hatten. Ein Zauber, der sich an alle richtet. Ein Zauber, der uns „Danke“ sagen will, wenn wir auch im turbulentesten Alltagsstress die Zeit finden, um einfach „Mensch“ zu sein. Wir alle müssen fest daran glauben, dass es diesen Zauber gibt. Notfalls müssen wir danach suchen, denn es gibt ihn wirklich. Wir müssen ihn nur erkennen.

Erinnerung an damals

Als ich am 16. Dezember 1989 abends wieder in meinem geliebten Sessel saß und im gerade neu gekauften Buch aus dem „Westen“ blätterte, lag mein Ausweis nicht weit entfernt. Immer wieder betrachtete ich den Poststempel, der nun nicht nur die Auszahlung des Begrüßungsgelds belegte, sondern durch das Erlebte für mich eine ganz besondere Bedeutung bekommen hatte. Auch heute sehe ich mir den Stempel noch gern an und erinnere mich an die vielen sichtbaren und unsichtbaren Weihnachtsengel, die damals nicht auf die Uhr, sondern auf die Menschen geschaut haben. Menschen, die unzählige Überstunden geleistet und stundenlang am Schalter Begrüßungsgeld ausgezahlt haben, die mit dieser Arbeit eine wohl nie dagewesene logistische Meisterleistung vollbracht haben. Menschen, die einfach da waren, damit es überall ein schönes Weihnachtsfest geben konnte.

Euch allen ein großes Dankeschön.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.

 

numiscontrol schreibt jedes Jahr eine kleine Weihnachtsgeschichte. Lesen Sie die Geschichten der letzten Jahre im Archiv der Münzenwoche:

Im Who’s who haben wir unseren Autor numiscontrol, alias Reiner Graff, vorgestellt.